Analyse der Fotografie: Albert Renger-Patzsch,
Zeche Victoria Mathias, Essen-Nordviertel,1929
Mit welcher Haltung treten ich den Fotografien von Albert Renger-Patzsch gegenüber?
Mein Interesse an Fotografien unterscheidet sich deutlich von dem an Gemälden. Bei der Malerei ist mir immer präsent, dass zwischen dem Ausdrucksstreben des Malers und meinem Eindruck als Betrachter ein gestaltetes Objekt (das Gemälde eben) als zentraler Aufmerksamkeitsschwerpunkt steht. Bei einer Fotografie, die mein Interesse geweckt hat, vergesse ich in der Regel sehr schnell den Fotografen und das Medium: ich nehme ältere Fotografien als ein Blitzlicht in eine vergangene Zeit wahr, in eine vergangene Realität, bei der mich auch Ort- und Zeitangaben interessieren. Mein Blick richtet sich, dem eines Historikers oder vielleicht Ethnologen vergleichbar, zunächst auf die Informationsebene des Bildes: Ach so sah es damals aus! So lebten also die Menschen; das waren die Ereignisse, Veränderungen, die die Menschen prägten. Ich übersehe dabei fast die künstlerischen Aspekte wie Komposition, Kontraste und das vom Fotografen bewusst Gestaltete. Meine Aufmerksamkeit ist im Gegenteil auf das gerichtet, was möglicherweise eher zufällig, überraschend, vielleicht sogar gegen den Willen des Fotografen ins Bild gekommen ist.
Diese Erwartungshaltung ließ mich zögern, die Ausstellung von Renger-Patzsch zu besuchen, gilt doch seine Fotografie als Prototyp der „Neuen Sachlichkeit“ – einer Stilrichtung nach dem 1. Weltkrieg, die anstrebte, alles Zeitgeschichtliche und Zufällige auszublenden, und die technisch perfekte Formwiedergabe in den Fokus ihrer Bemühungen stellte. Auch die Erinnerung an die Kritik von Brecht und Benjamin, dass das Äußere einer Fabrik doch nichts über ihre Realität aussage, wodurch die Fotografien der Neue Sachlichkeit in den Verdacht der Ästhetisierung geraten, steigerten nicht mein Interesse an der Ausstellung. Andererseits war ich zuletzt bei der Ausstellung von Hermann Kätelhön im Folkwang- Museum Essen auf die Fotos von Renger-Patzsch gestoßen (beide Künstler lebten und arbeiteten übrigens zur selben Zeit in der Essener Künstlersiedlung Margarethenhöhe). (https://www.ausstellungskommentare.de/2018/09/30/hermann-kaetelhoens-moehnesee-1928/)
Ich war von den gezeigten Fotografien über das Ruhrgebiet, als Dokumente des Übergangs von einer Agrar- in eine Wirtschaftszone in den 20er Jahren, beeindruckt.
Im Ruhrmuseum:
Hat man sich erst mal an den Eindruck gewöhnt, in einer betonsicheren, etwas düster beleuchteten Bunkeranlage zu sein, genießt man die Abgeschiedenheit der Ausstellungsräume und die Möglichkeit, mit den rund 200 Fotografien fast alleine zu sein. Mich haben nicht alle Fotografien angesprochen (Architektur- und Porträtfotografien eher weniger).
Doch dann stieß ich auf das folgende Foto:
Zeche Victoria Mathias, Essen-Nordviertel,1929;
In der Ausstellung:
Originaler Abzug auf Silbergelatinepapier, 22,7 x 16,8 cm, Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Pinakothek der Moderne, München
Zunächst das Offensichtliche
Eine Straßenschlucht mit Backsteinhäusern zu beiden Seiten einer Straße mit auf jeder Seite verlaufenden Bürgersteigen endet an einem Lattenrzaun, hinter dem sich eine Zechenanlage mit Halden, einfachen Gebäuden und 6 riesig aufragenden Schornsteinen erstreckt. Die Zechenanlage bekommt durch ihr deutlich helleres und kontrastärmeres Erscheinen etwas Unwirkliches, so als ob die Straße vor einer Kulisse / Fototapete endet.
Erste Erinnerungen/Assoziationen
Mir fallen Bilder ein, die verdeutlichen, wie eine Kathedrale die umliegenden Häuser und Straßen dominiert. Will die Fotografie an dieses Motiv anknüpfen? Die Zeche als neue Religion der Menschen im Ruhrgebiet?
Sollte sich in der Fotografie vielleicht sogar eine sozialkritische Haltung des Fotografen zeigen? Zu spekulativ erscheinen mir solche Gedanken, da sie nicht vereinbar sind mit dem eher sachlichen Gesamteindruck der Fotografie. Aber schauen wir uns das Foto einmal genauer an:
Bildbeschreibung
Die Fotografie zeigt eine Straße, die von der Sonne beschienen ist: scharfe Schlagschatten der Häuser bilden sich. Extrem sauber, aufgeräumt wirken die Straße und die beiden Bürgersteige: kein Abfall ist zu sehen, noch nicht einmal ein Fahrrad ist abgestellt. Die Klarheit/Schärfe des Vorder- und Mittelgrundes gibt keinen Anlass, negative Gerüche, gar Staub oder Ruß zu assoziieren. Im Mittelgrund haben sich vor einer Gaststätte mit dem Türschild „Thier-Bräu“ drei oder vier Personen zu einem Plausch zusammengefunden: das linke Paar im Sonntagsstaat, die rechte Frau mit der Schürze ist vielleicht die Wirtin. Das hinter ihnen liegende Zechengelände scheint die idyllische Szene nicht zu tangieren.
Insgesamt verbreitet die Fotografie von 1929 eine friedliche, fast heitere Sonntags-Stimmung.
Bildwirkung
Diese Fotografie zeigt eine Wirklichkeit, die mit meinen Vorstellungen vom Ruhrgebiet nicht ganz kompatibel ist, und ich wollte schon irritiert, vielleicht sogar etwas verärgert weitergehen, da fiel mein Blick auf eine junge Dame, die ich erst jetzt entdeckt hatte. Sie steht an der rechten Hauswand, leicht erhöht auf einer Treppenstufe kurz vor der einmündenden Straße. Sie guckt in Richtung des Fotografen und damit den Betrachter direkt an. Sie zögert. Mit ihrer hellen Bluse, dem Rock und der umgehängten Handtasche hat sie sich offensichtlich fürs Ausgehen angezogen. Sie ist schlank und wirkt mit ihren langen dunklen Haaren, der aufrechten Haltung und ihrer Kopfhaltung selbstbewusst und attraktiv auf mich. Entspannt, ruhig und doch konzentriert hat sie den Kopf nach links gewendet. Worauf wartet sie? Wie wird ihre Zukunft aussehen? Wie wird sie den 2. Weltkrieg er- bzw. überleben? In diesem Jahr wäre sie vielleicht 100 Jahre alt geworden, oder lebt sie vielleicht sogar noch?
Dieses Bilddetail hat mich – wie Roland Barthes vielleicht sagen würde: getroffen. Mehr kann man von einer Fotografie nicht erhoffen.