Bausteine für eine Ursprungstheorie - Untersuchungen zu Rinkes "Die Entstehung von H2O!" von 2016
Lothar Adam
Genesis 1,1:
„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.“
Klaus Rinke in Apokalyptische Vision:
…
Wasser war der Anfang,
…
Im unendlichen Sein
mit bloßen Augen nicht zu sehen
die Kleinlebewesen, die Menschen,
die Mikroorganismen, die Urtierchen.
…
Das Einzige, was am Ende zählt, ist der Liebesakt. Das andere war doch nur Kultur!
In meinen letzten Kommentaren habe ich unterschiedliche Methoden der Bilduntersuchung angewandt. Da sich bei dem Künstler bestimmte Themen und Motive wie Leitfäden durch sein ganzes künstlerisches Werk und diese Ausstellung ziehen, werde ich mich dem ausgewählten Bild durch Vergleiche mit motivverwandten anderen Werken nähern.
Bei dem ausgewählten Bild von 2016 mit den Maßen 195 x 145 cm, Acryl auf Leinwand, fällt mein Blick zunächst auf die bläuliche, längliche Tropfenform im Vordergrund, die sich vor einer Ovalform in schwarz-weißen Tönen befindet. Überraschend naturwissenschaftlich ist der Bildtitel: „Die Entstehung von H2O!“. Erste Deutungsversuche entstehen: Wasser – blau –Weltall – Urknall – Entstehung von Leben.
Erst bei genauerer Betrachtung entstehen Fragen: Was ist eigentlich in dem blauen Tropfen? Ist es ein Wassertropfen? Etwas zu länglich erscheint mir die Form. Vielleicht bedeuten ja die hellen Flecken die Wassertropfen? Nähern sich die am Bildrand befindlichen Flecken der ovalen Form an oder streben sie von dieser weg: Explosion oder Implosion? Was hat es mit der sich aus den Verdichtungen der weißen Flecken ergebenden Mittelsenkrechten und der zugespitzten Form am unteren Ende der ovalen Form auf sich?
Der in diesen Tagen 80 Jahre alt werdende Künstler hat sich mit dem Motiv des Wassers sein gesamtes künstlerisches Leben lang beschäftigt. Er wurde in Wattenscheid (der Wasserscheide!) geboren und hat sich seit seinen Anfängen als Konzeptkünstler mit Wasser auseinandergesetzt. 1969 pumpt er in die Kunsthalle Baden-Baden das Wasser aus der in unmittelbarer Nähe vorbeifließenden Oos über ein 300 m langes Schlauchsystem in ein Polyesterbecken. Auf der anderen Seite des Beckens wird es wieder abgesaugt. Trotz Turbulenzen und schäumender Wellen bleibt der Wasserstand im Becken immer konstant. Aber der Ort des Einströmens wird zu einem zentralen Versammlungs- und Kommunikationspunkt der Museumsbesucher.
Bei weiteren Aktionen schöpft er Wasser aus verschieden Flüssen, Seen und dem Mittelmeer, speichert es in Fässern und stellt diese mit den den Schöpfungsakt (!) dokumentierenden Fotos aus. Die Fließbewegung des Wassers wird durch das Schöpfen angehalten. Die Gegenwart des Flusses wird in den Fässern zu dessen Vergangenheit.
Damit berühre ich schon seinen zweiten Themenkreis: die Zeit. Das 1986-87 im Düsseldorfer Volksgarten installierte „Zeitfeld. Alles hat seine Zeit auch du Liebezeit.“ ist sicherlich mit seinen 24 Uhren, die über eine Mutteruhr zentral gesteuert werden, sein populärstes Werk.
Doch zurück zu dem zu untersuchenden Wasserentstehungsbild. Was hat es mit der auffälligen blauen Form auf sich?
Ich ziehe im Folgenden, wie schon angekündigt, immer wieder motivähnliche Bilder aus der Ausstellung in meine Überlegungen mit ein.
Das Bild: „Als H2O entstand, entstand das Leben“ von 2017 zeigt blaue Tropfenformen, die an unsichtbaren Fäden befestigt unterhalb einer schwarzen Fläche hängen. In ihnen zeigen sich weißen Schlieren, die in Bewegung zu sein scheinen. Die tropfenförmigen Gebilde erinnern an Glaskolben in chemischen Laboren. Es könnten somit chemische Prozesse angedeutet sein. Auch sehe ich im Innern einzelner Tropfen Formen, die Ähnlichkeiten mit Fotos haben, die sehr frühe Embryonalstadien abbilden.
Mit diesen Assoziationen im Hinterkopf kann die blaue Tropfenform des Ausgangsbildes etwas genauer gedeutet werden. Die im Innern sich befindlichen Schlieren deuten chemische oder biologische Prozesse an, die zur Entstehung von Leben führen könnten.
Auffällig ist allerdings die Abweichung in der Tropfenform, für die im nächsten Schritt eine Erklärung versucht wird.
Dem Bild „Angriff auf die Weiblichkeit/Spermien auf Amazonien“ von 2014 liegt eine ähnliche Bildordnung zugrunde. Dabei ist der Angreifer eindeutig als Spermium zu identifizieren. Der Bezug auf diese Form, so meine Vermutung, könnte in dem Ausgangsbild die ungewöhnliche Länglichkeit der blauen Tropfenform motiviert haben. Zusätzlich bekommt die im Hintergrund sich befindende ovale Form aus weißen Flecke nun die zusätzliche Assoziation: weibliche Eizelle.
Die im Bildtitel des Ausgangsbildes angesprochene Entstehung des Wassers wird um eine weitere Bedeutungsebene bereichert, die sich auf die Befruchtung einer Eizelle durch das Sperma und damit die Entstehung des Lebens bezieht.
Allerdings weist das Ausgangsbild keinen geschlungenen Spermaschwanz auf. Lässt sich erklären, warum dort der Schwanz durch eine Gerade ersetzt wurde, eine Senkrechte, die sich sogar unter der blauen Tropfenform fortsetzt?
In einer „Studie“ zu dem Ausgangsbild erkennt man wieder eine ähnliche Anordnung von Bildelementen, doch ist die schwarze, unten liegende Form fast dreidimensional in ihrem kompakten schwarzen Farbauftrag und die Sperma-/Tropfenform ist mit Weiß markiert.
Es befindet sich in dieser Studie aber zum ersten Mal eine Spitze am unteren Ende des Ovals. Nicht zuletzt durch diese kleine Formveränderung wird für mich die schwarze Form zu einer Frucht (einer Zitrone?) und das Sperma wird zu einem Blatt, wodurch sich der Eindruck von pflanzlicher Fruchtbarkeit einstellt, zumal die hellen Formen am oberen Rand in diesem Deutungsrahmen als wegfliegende Blütenpollen erscheinen könnten.
In dem Ausgangsbild werden zwar die untere Spitze und damit die Fruchtandeutung übernommen, aber mit dem weiß auf schwarz gefleckten Hintergrund wird ein ganz anderes Bezugsfeld, nämlich das Universum, angesprochen.
In der Studie verwendet er eine weiße Gerade, die von oben auf die Tropfenform zuläuft. In dem Ausgangsbild können die Verdickungen der weißen Flecken hin zu einer Mittelsenkrechten als weitere Abstrahierung des ursprünglichen Spermiumschwanzes verstanden werden.
Diese Mittelsenkrechte ermöglicht aber noch eine weitere Deutung.
Sehen wir uns dazu das Bild „Die Geburt des Lichtes und die Assistenz“ aus dem Jahr 2006 genauer an. Dieses riesige Bild gehört zu einem Zyklus, den Klaus Rinke 2006 in der Hagia Sophia in Istanbul ausstellte. Er zeigte dort riesige Segeltuchbanner, bedeckt mit minimalistisch-organischen Formen, die in dichten Lagen von Grafit aufgebracht sind. Dieser Zyklus wird in der Ausstellung zum ersten Mal in Deutschland gezeigt.
Bei der „Geburt des Lichtes …“ sieht man im unteren Bereich ein Bildelement, das offensichtlich das entstandene Licht symbolisiert. Durch die Viertelung der hellen, eiförmigen Form wird der weitere Entwicklungsprozess des Lichtes angedeutet, und zwar nach dem Modell der Zellteilung.
Vor diesem Hintergrund kann auch die Mittelsenkrechte in dem Ausgangsbild als Anspielung auf einen zukünftigen Teilungs- und Vermehrungsprozess gedeutet werden.
Zum Schluss möchte ich noch ein Bild von ihm vorstellen, das durch seinen gefleckten schwarz-weißen Hintergrund Bezüge zu dem Ausgangsbild aufweist. Dieses Bild mag als Beleg dafür dienen, dass man den Hintergrund des Ausgangsbildes in der Tat als Universum deuten darf; denn bei „Der Geburt der Sonne“ von 2017 können die weißen Anhäufungen von Flecken recht eindeutig als Sterne oder Galaxien gesehen werden.
Ich fasse die Ergebnisse unserer Expedition in die Bildwelt von Klaus Rinke zusammen: Offensichtlich werden in dem Bild “Die Entstehung von H2O!“ unterschiedliche Bedeutungsebenen parallelisiert. Der Titel bedeutet: Reines Wasser entsteht. Die beiden zentralen Bildsymbole deuten einerseits natürliche bzw. menschliche Befruchtungs-und Vermehrungsvorgänge an, andererseits finden auch stellare Vorstellungen von der Entstehung des Universums Anknüpfungspunkte. Damit überlagern sich in einem Bild Vorstellungen vom Ursprung des Lebens mit denen von der Entstehung des Kosmos: Das Kleinste begegnet dem Größten.
Deutlich geworden sein sollte, dass keine der Bedeutungsebenen die anderen ganz verdrängen darf; dafür sind die symbolischen Hinweise und auch die abbildhaften und kompositorischen Bezüge nicht eindeutig genug. Die Bildzeichen sind zum Teil abstrahiert, d. h. von organischen Formen in Richtung Geometrisierung weiterentwickelt, andererseits ähneln die verwandten Bildelemente nur schwach bekannten Darstellungstraditionen, so dass Mehrdeutigkeiten entstehen.
Hinzu kommen die noch nicht erwähnten Rätsel der räumlichen Anordnung: Die beiden Hauptformen sind nicht eindeutig miteinander verbunden. Die blaue Tropfenform schwebt merkwürdig unverbunden als Fremdkörper auf dem schwarz-weißen Untergrund. Die Mittelsenkrechte scheint unter der blauen Form weiter zu verlaufen. Offen muss auch bleiben, ob expandierende oder implodierende Kräfte die weißen Flecken bewegen.
Ein Ausstellungsbesucher könnte sich durch das Bild aufgefordert fühlen, eine kohärente Deutung zu versuchen. Oder aber er lässt die Mehrdeutigkeiten einfach nebeneinander stehen. Vielleicht kommt er zu dem Schluss, dass es etwas geben könnte, das all die im Bild angesprochenen Bedeutungsebenen verbindet. Er wäre damit auf der Spur von Rinkes „Vierter Kraft“, die zum Titel der Ausstellung wurde.
Zum Schluss:
Ich habe den Eindruck, der Maler selbst schaut aus dem Bild „Die Entstehung von H2o“ heraus und beobachtet uns, wie wir vor ihm verweilen.
Achtet mal auf die Anhäufung der dunklen Flecken in Augenhöhe und vergleicht sie mit seinem „K.R. 1995 – Mein Klon“!
Klaus Rinke
Die Vierte Kraft
MKM Museum Küppersmühle für Morderne Kunst, Duisburg
Noch bis zum 23.06.2019