von Lothar Adam

75 Überlebende des Holocausts von Martin Schoeller porträtiert

Die Idee, 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau den Überlebenden des Holocausts ein Denkmal zu setzten, leuchtet unmittelbar ein, zumal deren Anzahl aufgrund ihres Alters immer kleiner wird und die Bekämpfung des wieder aufkommenden Antisemitismus  dringend vielfältiger Unterstützungen bedarf.

So ist es aller Ehren wert, wenn der international renommierte Fotograf sich nach Jerusalem aufmacht und 75 Überlebende des Holocausts, heute zwischen 80 und 89 Jahre alt, in seiner besonderen Art (genannt „Close Up“) porträtiert. Hinzu kommt, dass er diese großen Fotoporträts  an einem Ort präsentiert, der maßgeblich an der Rüstungsindustrie während des Zweiten Weltkriegs beteiligt war: der Mischanlage der Kokerei Zollverein in Essen, in deren düsterer Bunkeratmosphäre die Fotoporträts wie helle Sterne aufleuchten.

MARTIN SCHOELLER Naftali Fürst 2019 © Martin Schoeller

Die Porträtierten stammen aus ganz Europa, durchlitten Ausschwitz oder andere Konzentrationslager, überlebten die Todesmärsche, haben sich totstellend in Leichengruben gelegen oder wurden von hilfsbereiten Menschen versteckt. Dem Fotografen gelingt es mit seinen Fotos, den vor dem Massenmord der Nazis Entkommenen ein einprägsames Gesicht zu geben. Vergegenwärtigt sich der Betrachter die Vergangenheit der kruden Betonwände, vor dem die Fotos hängen, so können die Bilder insgesamt als ein Sieg der Menschlichkeit  verstanden werden, insofern die dunkle Architektur einer menschenverachtenden Kriegsindustrie von dem gelassenen, aufrechten Blick der  Überlebenden in den Hintergrund gedrängt wird.

Martin Schoeller ist 1968 in München geboren, in Frankfurt aufgewachsen, hat am Nette-Verein Fotografie studiert. Er geht Mitte der 90ger Jahre in die USA, ist dort zuerst Assistent von Annie Leibowitz und fotografiert später für alle großen Magazine. Er ist v.a. durch seine Porträt-Strecken von berühmten Persönlichkeiten (wie Bill Clinton, Angelina Jolie, Sting, Jack Nicholson, George Clooney und Angela Merkel) bekannt geworden.  Mit seiner besonderen Porträttechnik, die er unabhängig vom Status bei allen Fotografierten  gleich anwendet, steht er in der Tradition eines August Sander oder von Bernd und Hilla Becher. Der Fotograf ist vom jüdischen Freundeskreis von Yad Vashem angesprochen worden, anlässlich des Jahrestages der Befreiung von Auschwitz 75 Überlebende des Holocausts zu porträtieren. Die Auswahl der Personen und die Interviews sind vom Yad Vashem vorbereitet worden. Im Juni 2019 ist er für 10 Tage nach Jerusalem geflogen, wo er die Interviews und Porträts aufgenommen hat.

 Die Gesichter auf den Fotos sind formatfüllend und wirken durch den frontalen und emotionslosen Blick in die Kamera sehr intensiv. Der Fotolinse ist genau auf Augenhöhe platziert, Blitzlicht wird vermieden, kaltes Neonlicht leuchtet jedes Detail des Gesichts weich aus. Die Tiefenschärfe ist extrem gering (große Öffnung der Blende) und auf die Augen fokussiert, so dass schon die Ohren unscharf werden. Durch das verwendete Dauerlicht schließen sich die Pupillen stärker, als wenn er mit Blitz fotografiert hätte. Deshalb wirken die Augen und auch die Iris mit ihren Farben so intensiv. Kein Hintergrund lenkt ab, nur das nackte Gesicht mit dem nach vorne gerichteten Blick zählt, wobei ein möglichst ungestellter, meist ernsthafter Gesichtsausdruck angestrebt wird. Die weiß-gerahmten Porträts beeindrucken durch ihre Größe und farbliche Prägnanz, sie drängen nach vorne, lassen den Betrachter zurücktreten, um aus größerer Distanz die Gesichter zu studieren. Nach einem reflexhaften Zurücktreten vor dem meist ernsthaften Blick nähert sich der Betrachter dem Fotografierten wieder an, indem er von den Augen ausgehend und immer wieder auf sie zurückkommend die weiteren Details des Gesichts studiert. Die Personen scheinen in Richtung des Betrachters, aber auch durch ihn hindurch in eine unbestimmte Weite zu blicken. Nachdem sich ein Vertrautheitsgefühl eingestellt hat, entsteht das Bedürfnis, etwas mehr über die Person zu wissen, um die wahrgenommenen physiognomischen Details mit dem Durchlebten in Verbindung bringen zu können – aber darauf komme ich später noch einmal zu sprechen.

So prägnant und detailgetreu mir die Gesichter auch erscheinen, so wird m. E. das Herausstellen der Individualität der Holocaustüberlebenden durch eine stilistische Besonderheit, die bei allen Porträtierten angewandt wird, etwas eingeschränkt: Durch die Spiegelung der  Beleuchtungsröhren rechts und links von der Pupillenmitte entstehen zwei Glanzpunkte auf jeder Pupille, die ihnen etwas Magisch-katzenhaftes verleihen.  Dieses immer Gleiche der „Katzenpupillen“ stört mich etwas, aber es gehört halt zu den stilistischen Besonderheiten des Fotografen.

Überblickt man die Ausstellung und konzentriert sich rein auf das optische Erscheinungsbild der Menschen, so kann man feststellen: Die heute in Israel lebenden Männer und Frauen unterscheiden sich mit ihren Fältchen, Altersflecken, Haaren usw. nicht mehr und nicht weniger voneinander wie dies bei älteren Menschen in westlichen Ländern aufgrund ihrer Individualität eben auch der Fall ist. Dieser Befund betont noch einmal die Wichtigkeit der rahmenden Informationen, die man haben muss, um die Fotos angemessen zu verstehen.

»Nichts ist so wichtig wie das Gefühl, man lernt jemanden kennen«, sagt der Fotograf auf der Pressekonferenz. »Für mich war es das emotionalste Projekt meines Lebens«. Die Geschichten seiner Fotomodelle zu hören, habe ihn für immer verändert. Er hoffe, dass er durch seine Ausstellung diese Erfahrung weitergeben könne. In einem kurzen Making-Off-Film, der auch in der Ausstellung zu sehen ist, wird spürbar, wie emotional bewegend für ihn, dessen Frau übrigens Jüdin ist, die Begegnung mit den Überlebenden und den geschilderten Erlebnissen war.

Martin Schoeller und Miki Goldmann-Gilead „Survivors“, Behind the Scenes 2019 © Martin Schoeller Studio

Die Informationen und Eindrücke, die den Fotografen in Israel so beeindruckt haben, vermittelt die Ausstellung leider nicht. Was haben die Betroffenen während der NS-Zeit erlitten?  Wie ist es ihnen gelungen, den Nazimördern zu entgehen? Wie haben sie das Erfahrene verarbeiten können? Wie leben sie heute? Was denken und fühlen sie über Deutschland und den deutschen Fotografen? Usw.

Unter den Bildern sind zwar kleine Tafeln angebracht, auf denen der jeweilige Namen, knappe biografische Angaben und immer ein Zitat des Dargestellten zu finden sind. In diesen kurzen persönlichen Statements, die überraschenderweise  fast ohne Groll auskommen, wird der Blick meist positiv und versöhnlich auf die Zukunft und auf die nachfolgenden Generationen gerichtet.

Das Schicksal der Betroffenen wird somit in der Ausstellung höchstens angedeutet. Dies halte ich für eine vertane Chance.

Um es auf den Punkt zu bringen: ich bewundere die fotografische Arbeit von Martin Schoeller, halte den Ausstellungsort und die Hängung der Fotos für optimal, ich kritisiere aber die fehlende Möglichkeit, mehr über das Schicksal der Abgebildeten in der Ausstellung oder zumindest in dem Katalog erfahren zu können.

Aber vielleicht kann diese Ausstellung ja die Initialzündung für eine genauere Beschäftigung mit dem Leid sein, das Deutsche vor mehr als 75 Jahren dem jüdischen Volk angetan haben.

Literaturtipp: Herlinde Koelbl, Jüdische Portraits: Photographien und Interviews (Deutsch), 1989 

Zur Ausstellung ist ein englischsprachiges Fotobuch im Göttinger Steidl-Verlag erschienen. Es umfasst auf 167 Seiten sämtliche Fotos und Bildunterschriften und  kostet 28 Euro.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Bernadette Frequin

    Eine gelungene Austellung!

    Dein Kommentar, Lothar, fand ich präzise und klar.
    Vielen Dank!

    Bernadette

  2. Hamm

    „Dem Fotografen gelingt es mit seinen Fotos, den vor dem Massenmord der Nazis Entkommenen ein einprägsames Gesicht zu geben“? Haben diese Entkommenen nicht eigentlich schon ein Gesicht, wären sie ohne den Fotografen gesichtslos? Dann lese ich, „Die heute in Israel lebenden Männer und Frauen unterscheiden sich mit ihren Fältchen, Altersflecken, Haaren usw. nicht mehr und nicht weniger voneinander wie dies bei älteren Menschen in westlichen Ländern aufgrund ihrer Individualität eben auch der Fall ist.“ Also ist das „einprägsame Gesicht“ doch `bloße Dutzendware´? So kann der Kommentator das noch nicht gemeint haben.
    Möglicherweise war ihm dies alles aber nur die Vorbereitung auf die „vertane Chance“: Mehr über das Schicksal dieser Menschen zu erfahren, mehr und gerade in der heutigen Zeit. Die massive Eindringlichkeit dieser Porträts verlangt nach eindringlicher Klärung und einem massiven „Nie wieder“. und gerade auch nach dem aufklärenden Weshalb?! Dies ist m. E. die `vertane Chance´, denn das bundespräsidiale `Das Böse ist immer noch´ wirkt gegenaufklärerisch und verstellt den Blick auf die Motive, Zwecke und Gründe des Holocaust und ihre Wurzeln im ganz normalen Politikbetrieb, dämonisiert und entschuldigt. „Wer über Demokratie nicht urteilen will, soll über Nationalsozialismus und Antisemitismus schweigen.“ Adorno oder Horkheimer?

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