Renoir-Monet-Gauguin. Bilder einer fließenden Welt
Museum Folkwang Essen
Klaus-Peter Busse
Eine Ausstellung erzählt viele Geschichten
Das Museum Folkwang feiert mit einer fulminanten Ausstellung seinen 100. Geburtstag. Die Kunstwerke von Renoir, Cézanne, Monet, Courbet, Gauguin und anderen Künstlern sind Grund genug, nach Essen zu fahren. Die Ausstellung wird wohl ein Blockbuster-Ereignis werden. Man muss sich jetzt nicht mehr mit Reproduktionen aus Möbelhäusern oder Versandhäusern zufrieden geben. Hier kann man endlich wieder die Originale einer Epoche sehen, die ganz oben in der Beliebtheitsskala von Kunstinteressierten steht.
Man kann sich gar nicht vorstellen, dass diese Bilder und Skulpturen zu ihrer Entstehungszeit Verunsicherungen und zum Teil Empörung auslösten. Was vor 100 Jahren schockierte, ist heute ein Standard geworden. Nicht ohne Grund sah der Kunstkritiker Robert Hughes diese Zeit als „Schock der Moderne“. Die Kunst reagierte auf eine Welt, die sich rapide veränderte. Großstadt, Verkehr, Industrialisierung: In dieser neuen Welt musste man sich zurechtfinden. Und die Künstler*innen fanden neue Wege, sich mit dieser Welt auseinanderzusetzen. Deswegen ist der Titel der Ausstellung gut gewählt. Die „Bilder einer fließenden Welt“ spiegeln eine Lebenswirklichkeit, in der man lernen musste, sich zu orientieren. Gemälde über das Leben in der Großstadt, über qualmende Lokomotiven und Eisenbahnbrücken fehlen in dieser Ausstellung. Gleichwohl beherrschten sie den Lebensraum von Karl Ernst Osthaus, der viele der ausgestellten Kunstwerke für sein Museum in Hagen erwarb. Denn auch Hagen, am südlichen Rand des Ruhrgebiets gelegen, war von der rasanten industriellen Entwicklung geprägt, die sich bis hinein in das Stadtbild zeigte: »öde, schmutzig, verrußt, das Gemüt bedrückend«, wie es der Kunstsammler, Mäzen und Kunstkritiker Harry Graf Kessler beschrieb, als er am 20.12.1911 den Kunstmäzen besuchte, der 1902 dort das Folkwang Museum gegründet hatte. Osthaus schwärmte: Bald würden die Städte des Ruhrgebiets zu einer großen 5-Millionen-Stadt zusammenwachsen.
Ida Gerhardi
Porträt Karl Ernst Osthaus, 1903 Öl auf Leinwand, 110 x 76,5 cm Osthaus Museum, Hagen
Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf
1926 reiste der Schriftsteller Joseph Roth durch das Ruhrgebiet, und seine Reportage zeigt eindrucksvoll, wie sich das Ruhrgebiet verändert hatte. »Das Land will immer wieder anfangen, Land zu sein – und kann nicht. Da sind keine Häuser. Jetzt könnte es eine Landschaft werden. Sogar Bäume stehen zu beiden Seiten und sind bereit, sie zu bestätigen. Aber unsere Straßenbahn bedarf der Drähte, und die Drähte bedürfen der langen hölzernen Pfosten, der kahlen, an deren höchstem Ende ein paar weiße Porzellangefäße zu elektrischen Zwecken blühen. Karikaturen von Schneeglöckchen. Hinten, weit, am Horizont, sind Bestrebungen der Natur im Gange, einen Wald hervorzubringen. Aber es ist kein Wald. Es entsteht eine Art beginnender Vegetationsglatze mit vereinzelten Tannensträhnen. […] Ach, es ist so gleichgültig! Ein Ziel wie das andere. Eine Stadt wie die andere. Eine Straße wie die andere. Steig in die Straßenbahn. Du bist in einer halben Stunde in der nächsten Stadt. Hat sich was geändert? Rauch über der Welt! Man fährt nach Oberhausen, von da nach Mühlheim, von da nach Recklinghausen, nach Bochum, nach Gladbeck, nach Buer, nach Hamborn, nach Bottrop, Rauch über der Welt! Kein Himmel, keine Wolke, Regen, der aus Rauch kommt. Schwarzer Regen. Hundert Schornsteine, aufgestreckte Zeigefinger, Säulen des Rauchhimmels, Altäre des Gottes Rauch, Schon auf der Erde, korrespondierende Drähte in der Luft. Eine einzige grausame Stadt aus Stadthäufchen, aus Städtchengruppen.« In diese Zeit fallen die Gründung des Hagener Museums, der Tod von Osthaus und der Verkauf seiner Sammlung nach Essen, wo 1922 das neue Museum Folkwang eröffnet wurde. Warum sind diese Zeitumstände erwähnenswert? Sie machen deutlich, dass Karl Ernst Osthaus die Kunst, das Design und den Städtebau als Wege sah, das unwirtliche Lebensumfeld zu verbessern. Diese Verbesserung sollte »im Zusammenklang aller Künste« in einer Einheit zur »Wiedereroberung des Lebens« erfolgen. Auch alternative Lebenskonzepte spielten in dieser Utopie eine wichtige Rolle, die grundsätzlich von der zeitgenössischen Kunst bestimmt war. Dieses Handlungsmodell warf den Menschen einen Mangel an ästhetischer Bildung vor und war geprägt von der Vorstellung, dass die Kunst das Leben schöner machen könne. Karl Ernst Osthaus hatte sehr klare kulturpädagogische Vorstellungen, sah das Museum als kulturelle Schaltstelle der Stadt, und er öffnete sein Haus für alle Medien. An diese Tradition knüpft das Museum Folkwang in Essen ausdrücklich an, wenngleich der Urenkel von Osthaus eingesteht, dass man heute für die Menschen im Ruhrgebiet andere Wege finden muss, die Kunst im Museum zu vermitteln.
Pierre-Auguste Renior
Lise – La femme à l’ombrelle, 1867
Lise mit dem Sonnenschirm
Öl auf Leinwand, 184 x 115,5 cm Museum Folkwang, Essen
Die Essener Ausstellung präsentiert die Bilder einer fließenden Welt im Zusammenhang ihrer Ankäufe und ihrer Zugehörigkeit zu einer Sammlung. Mit zusätzlichen Begleitmaterialien, Einführungstexten und Veranstaltungen macht sie das historische Wissen verfügbar, das zu ihrem Verständnis erforderlich ist. Eine Vorbereitung für den Ausstellungsbesuch ist empfehlenswert, um die Absicht der Kurator*innen nachvollziehen zu können, die die Kunstwerke in dem Kontext von Sammlungsgeschichten zeigen, also als Werke in einer Kulturinstitution. Das ist heute eine sehr wichtige museale Aufgabe: Nicht nur von den Gemälden, Skulpturen und Zeichnungen zu lernen, sondern auch von der Geschichte eines Museums. Freilich können sich Besucher*innen auch an den Werken selbst erfreuen, beispielsweise an dem großartigen Landschaftspanorama mit Gemälden von Courbet, Monet und anderen Malern. Besonders beeindruckend und sehr geschickt eingerichtet ist die Gegenüberstellung der „Folkwang-Räume“ im heutigen Museum mit einer wandgroßen Fotografie eines historischen Ausstellungsraums.
Die Ausstellung ist schon deshalb sehr breit angelegt und vielfältig, weil sie die eigene Sammlung mit dem Werkbestand des japanischen Schiffsunternehmers Matsukata zusammenführt, der sich zeitgleich mit Osthaus für die Kunst des (Spät)Impressionismus begeisterte und sie für sein Haus erwarb. Es sind interessante Linien, denen man nachgehen kann. Japonismen begeisterten viele französische Impressionisten, die diese Bilder und Objekte kauften. Im Paris der damaligen Zeit gab es einen regen Handel mit diesen Werken. Claude Monet war ein begeisterter Sammler. Und umgekehrt erregten die europäischen Kunstwerke das Interesse in Japan: Kunstwerke sind „Bilderfahrzeuge“, wie der Kunsthistoriker Aby Warburg diese Vorgänge nannte.
Bilder haben immer einen Ort: vom Atelier der Künstler*innen, vom Ort ihrer Sammlung, über die Orte, an die sie geschickt werden, bis hin zu den Orten, die sie abbilden. In Essen sieht man sehr viele Gemälde, die das Meer, Gärten und andere Landschaften abbilden. Wasser und Schiffe sind beliebte Motive dieser Zeit. Die Bilder zeigen Nah- und Fernräume, zu denen man reisen musste. Veranschaulichen kann man sich dies mit einer Fingerreise auf einer Landkarte, die zeigt, wo die Bilder entstanden. Künstler*innen nutzten schnell die Möglichkeiten des sich entwickelnden Eisenbahnnetzes. So überrascht es nicht unbedingt, dass Henri Matisse Karl Ernst Osthaus in Hagen besuchte. Aber auch Osthaus reiste viel, um die Kunst zu sehen (und zu kaufen), für die er sich interessierte. Er besuchte mit seiner Frau Gerda Paul Cézanne in Aix-en-Provence, und sie machte ein schönes Foto des Malers, der einen Stuhl aus seinem Haus holt.
Paul Cézanne
La carrière de Bibémus, um 1895
Der Steinbruch Bibémus
Öl auf Leinwand, 65 x 81 cm Museum Folkwang, Essen
Über das Leben von Karl Ernst Osthaus weiß man heute sehr viel, und es lohnt sich, nicht nur die Ausstellung in Essen, sondern auch in Hagen das Osthaus Museum, das Wohnhaus am Hohenhof, das Krematorium und die Siedlung Hohenhagen zu besuchen. Diese Orte vermitteln sehr genau, wie Osthaus seine vielen Ideen umsetzte und was ihm mit der Hilfe wichtiger Architekten gelang. Gerade erscheint eine umfangreiche Biografie von Rainer Stamm und seiner Frau, die über die vielen Verwicklungen im Leben von Osthaus informiert. Auch erfährt man, wie es zum Verkauf seiner Sammlung nach Essen kam, nachdem er in Meran gestorben war.
Der Philosoph Wolfram Eilenberger behauptet in seinem aktuellen Buch über das Ruhrgebiet, dass die Region kein nenneswertes Kunstwerk hervorgebracht habe, und er unterstützt mit dieser absolut falschen Aussage das Klischee von einem kulturell trostlosen Emscherland. Er hätte als Stadtschreiber in Mülheim wenigstens erkennen müssen, dass mit dem Folkwang-Impuls in Hagen und Essen ein in Europa einmaliges Projekt entstanden war, um Kunst, Städtebau und Design in einen Zusammenhang zu stellen. Nur wenige Jahrzehnte später machen sich im Ruhrgebiet Künstler*innen auf den Weg, ihre Werke nicht mehr dem hässlichen Ruhrgebiet gegenüberzustellen, sondern die Region mit neuen künstlerischen Methoden zu untersuchen. Damit einher gehen die zahlreichen neuen Museumkonzepte in der Region, die, initiiert von Thomas Grochowiak in Recklinghausen, von Michael Fehr am Osthaus Museum in Hagen und von Kurt Wettengl am Ostwall Museum in Dortmund, Kunst im Kontext einer Stadtöffentlichkeit neu verorten und an dieser Stelle mit anderen Mitteln an die Tradition anknüpfen und sie sogar fortsetzen. Es ist mehr als das: Das offene Archiv von Sigrid Sigurdsson im Osthaus Museum in Hagen lädt die Bewohner*innen der Stadt ein, sich selbst in das Museum durch Spuren ihrer Biografien einzubringen. Besser kann man die Welt von Karl Ernst Osthaus nicht in die Ansprüche der heutigen Zeit übersetzen.
Wichtige und gut lesbare Bücher zum Thema (neben dem gut edierten Katalog):
Rainer Stamm/Gloria Köpnick: Karl Ernst und Gertrud Osthaus. Die Gründer des Folkwang Museums und ihre Welt, München 2022
Christoph Dorsz: Karl Ernst Osthaus und der Folkwang Impuls. Das Museum von 1902 bis heute, in: Der Folkwang Impuls, Ausstellungskatalog Osthaus Museum Hagen, Hagen 2012
Der Zufall will es, dass gleichzeitig im Düsseldorfer Kunstpalast eine Ausstellung stattfindet, die den größten deutschen Impressionisten feiert:
Ich. Max Liebermann. Ein europäischer Künstler
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