Ich. Max Liebermann. Ein europäischer Künstler
"Badende Knaben" von 1900 - ein Schlüsselwerk
Lothar Adam
Max Liebermann, Selbstbildnis mit Pinsel und Palette, 1913, Öl auf Leinwand 89 x 72,3 cm
Die Ausstellung „Ich. Max Liebermann – Ein europäischer Künstler“ zeigt die Entwicklung des 1847 in Berlin als Sohn einer erfolgreichen jüdischen Kaufmannsfamilie Geborenen von seinen anfänglichen Studien in Weimar bis zum Spätwerk, den prächtigen Gartenbildern seines Hauses am Wannsee. Bildlich belegt die Ausstellung, durch welche Künstler der viel reisende Liebermann beeinflusst wird: Begleitet von seinem Weimarer Lehrer Theodor Hagen reist er 1871 nach Düsseldorf, wo er die Malerei des in der Öffentlichkeit geschätzten ungarischen Malers Mihály Munkácsy kennenlernt. In Paris, wohin er trotz des Deutsch-Französischen Krieges (1870 – 1871) schon 1872 zieht, ist er fasziniert von den Gemälden der Schule von Barbizon (v.a. Jean-François Millet) und später von den französischen Impressionisten (Camille Pissarro, Claude Monet, Édouard Manet). Schließlich werden die Niederlande, in die er über 40 Jahre fast jährlich reist, zu seiner malerischen Wahlheimat. Er bewundert die alten Meister (v. a. Franz Hals) und freundet sich mit dem Maler Jozef Israëls, einem Vetreter der Haagener Schule, an. 1898 wird Liebermann Präsident der kurz zuvor von ihm mitgegründeten Berliner Secession. Er wird zum einflussreichsten Protagonisten des deutschen Impressionismus. Mit dem Ersten Weltkrieg (1914 -1918) endet Liebermanns Reisetätigkeit, seine Villa und sein von Alfred Lichtwark gestalteter Garten, wohin er sich bis zu seinem Tod 1935 zurückzieht, werden zum inspirierenden Bezugspunkt des Spätwerkes seiner Malerei.
Das Thema der Badenden, bei dem die Darstellung von Frauen überwiegt, ist sehr beliebt in der Kunstgeschichte: Paul Gauguin, Paul Cézanne und Georges Seurat als auch Lovis Corinth haben sich seiner angenommen. Max Liebermann hat sich mit diesem Motiv bereits in den 1870er Jahren in dem großformatigen Werk »Im Schwimmbad« beschäftigt.
Max Liebermann, Im Schwimmbad, 1875 bis 1877, 180,9 x 225 cm
Die Farbgebung dieses Bildes, beeinflusst durch den realistischen Malstil Munkácsys, zeigt vor einem relativ dunklen Hintergrund die hellen Knabenkörper. Auffällig ist, dass die nackten Körper an antike Statuen oder an Arbeiten von Michelangelo erinnern und damit dem idealisierenden Stil der Historienmalerei verbunden bleiben. Als Liebermann nach 50 Jahren diese erste Fassung des Motivs selbst restauriert, gestaltet er den rechten Ausblick auf das Meer neu. Denn erst ab 1882 – im niederländischen Zweeloo und unter dem Einfluss seines Malerkollegen Jozef Israëls – blickt er in seiner Malerei über die Dünen aufs sonnenbeschienene Meer.
Das Sujet der badenden Knaben wird ab Mitte der 1890er Jahre zu einem Lieblingsmotiv von Liebermann. Über 40 Versionen sind bekannt. In der von 1898 sehen wir z. B. Knaben, die sich aus dem Meer kommend mit dem Anziehen beeilen.
Max Liebermann, Badende Jungen, 1898, Öl auf Leinwand 112,5 x152 cm
Genau zur Jahrhundertwende entsteht das in der Ausstellung prominent in der Mitte des drittletzten Raumes positionierte Gemälde „Badende Jungen“, das mich besonders beeindruckt hat.
Max Liebermann, Badende Knaben, 1900, Öl auf Leinwand 113 x 152 cm
Wie viele der Gemälde mit dem Motiv der badenden Knaben erweckt auch dieses den Anschein eines zufälligen Schnappschusses, wie er unter dem Einfluss der aufkommenden Fotografie auch z. B. von Degas in seinen Gemälden gerne erzeugt wird. Dass dieses Gemälde aber nicht einen unmittelbaren optischen Eindruck wiedergibt, sondern einer genauen Planung der Komposition im Atelier folgt, soll im Folgenden durch einen Bildvergleich mit einer möglicherweise direkt am Strand entstandenen Vorstudie belegen.
Max Liebermann, „Badende-Knaben“ 1899, Öl auf Malkarton 34.7 x 47,6 cm
Auf beiden Bildern sehen wir badende Knaben von einem Strandwächter bewacht. Die meisten Jungen sind Richtung Horizont gewandt, während zwei dem Betrachter entgegenkommen.
Interessant sind die Abweichungen zwischen den Bildern:
Im Gemälde prüft ein nackter Knabe im Vordergrund links die Wassertemperatur mit dem rechten Fuß. Man ahnt das Erschrecken ob der Kühle des Wassers. Da der Knabe nur auf dem linken Fuß steht und mit den Armen das Gleichgewicht zu halten versucht, wirkt die Körperhaltung insgesamt instabil und wackelig.
Besonders deutlich werden die die Komposition betreffenden Veränderungen, wenn wir Studie und Gemälde durch eine Mittelsenkrechte teilen.
Bei der Studie befindet sich auf der linken Bildhälfte eine größere Anzahl von Knaben, die alle nach links streben. Auf der rechten Bildhälfte kommen zwei Jungen auf den Betrachter zu, ein dritter befindet sich genau in der Bildmitte.
Dagegen zeigen sich bei dem Gemälde auf jeder Bildseite genau die exakt gleiche Anzahl an Personen: 4 Knaben und ein Erwachsener (auf der rechten Bildhälfte hinten die Person mit Bart). Auf beiden Bildhälften geht einer der Knaben auf den Betrachter zu, während die anderen Knaben eher in der Seiten- bzw. Rückenansicht zu sehen sind. Hat der Strandwächter auf der linken Bildhälfte ein blaues Hemd und eine rote Hose, so werden auf der rechten diese Farbakzente in den Hosen der beiden rechten Knaben wieder aufgenommen. Auf der linken Seite ist der Strandwächter durch Haltung, Kleidung und Position von den Knaben getrennt. Auch der zentrale Junge auf der rechten Bildhälfte ist isoliert. Er entfernt sich von den anderen Knaben und dem Erwachsenen, die auf einen Punkt rechts außerhalb des Bildes blicken.
Bei einem nochmaligen Blick auf die Studie wird deutlich, dass im Gemälde der zentrale Knabe der rechten Bildhälfte größer ist. Da auch der Standort des Betrachters im Gemälde etwas tiefer liegt, können wir ihm nun direkt in sein Gesicht schauen.
Diese Parallelen zwischen den beiden Hälften des Bildes fallen aber beim ersten Betrachten nicht auf. Zu dominant sind die Elemente der Gesamtkomposition, die das Bild als Einheit erleben lassen: Natürlich die durchgehende Farbgebung der Landschaft aus Himmel und Meer, aber auch die parallelen leicht schrägen Wellenkämme mit der Wasserkante sowie der Blick des Wächters, der von der linken Bildseite in Augenhöhe dem Horizont folgt, lassen das Bild als ein insgesamt geschlossenes Werk erscheinen.
Durch den Bildvergleich mit der Studie wird deutlich, dass Liebermann mit dem Gemälde eine Komposition anstrebt, die das Ungleichwicht zwischen den beiden Bildhälften aufhebt. Die angestrebte figürliche Ausgewogenheit und die farblichen Korrespondenzen verstärken den harmonischen Gesamteindruck des Bildes.
Weiterhin ist erkennbar, dass Liebermann den Focus des Gemäldes auf die drei Personen im Vordergrund legt. Sie sind im Vergleich zur Studie durch ihre Position und Größe betont: der ruhig die Szene betrachtende „halbe“ Strandwächter, der die Wassertemperatur prüfende Junge halb links und der aus dem Wasser kommende Junge rechts.
Direkt schaut dieser den Betrachtenden an. Sein Blick hat etwas Fragendes, mit den geballten Fäusten und dem aufspritzenden Wasser zusammen vielleicht auch etwas Aggressives. Warum kommt er zurück? Eindeutig gehört er mit den gebräunten Unterarmen und Wangen, der einfachen Unterhose zu der Gruppe der hinter ihm Badenden, seien es nun einheimische Fischerjungen, wofür die (z. T. fehlende) Badebekleidung der Badenden und deren Alltags-Kleidung (bei anderen Badeszenen von Liebermann zu sehen) spricht, oder seien es die Kinder von Kurgästen, die – innerhalb dieser Deutung – von einem Bademeister bewacht werden.
Auch wenn wir nicht die Gründe kennen, die den Jungen zum Rückzug aus dem Meer bewegen, es muss etwas Unangenehmes sein, das zu seiner Distanzierung von der Gruppe führt. Die Betrachter werden durch den herausfordernden Blick des Jungen aufgefordert, über die Ursachen seines Rückzugs sowie die weitere Entwicklung der Szene zu spekulieren. Vielleicht berühren diese Spekulationen dabei ihre eigenen Erfahrungen und Ängste. Das Bild hielte dann im Sinne Lessings einen „fruchtbaren Augenblick“ fest, der beim Betrachter ein Nachdenken über das Vorher und Nachher provoziert.
Der besondere Zauber dieses Bildes liegt aber v.a. darin, dass Liebermann diesen berührenden Moment völlig entdramatisiert: durch den ersten Eindruck eines zufälligen Schnappschusses, der sogar eine Person nur zur Hälfte zeigt, durch die impressionistische leichte Malweise, die v.a. Lichterscheinungen mit lockerer Pinselführung wiedergibt, ja die gesamte Bildatmosphäre vermittelt bei aller kompositionellen Strenge eine Weite und Leichtigkeit, die die Betrachtenden an eigene Freizeitvergnügungen am Meer erinnern könnten. Auf der anderen Seite zeigt Liebermann nicht klischeehaft ein Sommer-Strand-Bade-Vergnügen. Zu ernst ist der Gesichtsausdruck der Knaben. Durch das ganze Bild weht ein kühler Nordsee-Wind, den die akademische Malerei des 19. Jahrhunderts nicht kannte.
Max Liebermann zeigt sich in diesem Schlüsselbild als realistischer Impressionist. Waren seine frühen Arbeiten durch den unsentimentalen Blick auf das Leben und die Arbeit der einfachen Menschen ausgerichtet, so wird er in seinem Spätwerk mit seinen Gartenansichten die Sprache des Impressionismus weiterentwickeln.
Die Ausstellung bietet über den Querschnitt durch Liebermanns Werk hinaus auch hervorragende Bilder anderer europäischer Künstler, um deren Einfluss auf sein Schaffen zu verdeutlichen.
Der Zufall will es, dass im Essener Folkwang Museum anlässlich seines hundertjährigen Bestehens der französische Impressionismus gefeiert wird.
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