Ursula Hirsch. Vor aller Augen - Collagen und Zeichnungen
Lothar Adam
Vier Jahre vor der nationalsozialistischen Machtergreifung in Düsseldorf geboren, gehört Ursula Hirsch zu den letzten noch lebenden Zeitzeugen. Ihre Kinderjahre verbrachte sie im Ruhrgebiet, Krieg- und unmittelbare Nachkriegsjahre in Rosenheim.
Auf Anraten ihres Vaters begann sie zunächst eine Lehre als Glasmalerin. Angeregt von der abstrakt-modernen Glasgestaltung eines Jan Thorn Prikker und Georg Meistermann führte sie zahlreiche Aufträge im öffentlichen Raum aus. Daneben entwickelte sie ab 1955 als freie Künstlerin Gemälde, Druckgrafiken und Reliefs, zunächst in einer abstrakt-konstruktiven Formensprache.
Die drei in der Ausstellung zu sehenden Siebdrucke (auf Papier): Flasi 24, 4, u und 1von 1969 verdeutlichen diese Schaffensphase.
Vier Jahre vor der nationalsozialistischen Machtergreifung in Düsseldorf geboren, gehört Ursula Hirsch zu den letzten noch lebenden Zeitzeugen. Ihre Kinderjahre verbrachte sie im Ruhrgebiet, Krieg- und unmittelbare Nachkriegsjahre in Rosenheim.
Auf Anraten ihres Vaters begann sie zunächst eine Lehre als Glasmalerin. Angeregt von der abstrakt-modernen Glasgestaltung eines Jan Thorn Prikker und Georg Meistermann führte sie zahlreiche Aufträge im öffentlichen Raum aus. Daneben entwickelte sie ab 1955 als freie Künstlerin Gemälde, Druckgrafiken und Reliefs, zunächst in einer abstrakt-konstruktiven Formensprache.
Die drei in der Ausstellung zu sehenden Siebdrucke (auf Papier): Flasi 24, 4, u und 1von 1969 verdeutlichen diese Schaffensphase.
In den späteren Jahren erweitert sich das Werk von Ursula Hirsch um figurative und surreale Elemente, Theaterzeichnungen sowie um Techniken der Collage.
In der Ausstellung sind auch 5 wunderschöne Collagen aus dem Jahre 2003 zu sehen.
Im Focus der Ausstellung steht die 13-teilige Collagen-Serie sich erinnern
Sie entstand 1988 anlässlich der 50. Wiederkehr der Reichspogromnacht. Aus der Perspektive der Zeitzeugin reflektiert Ursula Hirsch die gewalttägigen Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger*innen vom 9. auf den 10. November 1938. Diese vom nationalsozialistischen Regime gelenkten Übergriffe, die vor aller Augen stattfanden, erlebte sie als neunjähriges Kind in .den Straßen Duisburgs.
Das Besondere an diesem Zyklus ist, dass seine Ausdruckskraft durch die Kombination bzw. Verbindung der abstrakt-konstruktiven Bildsprache mit der Techniken der Collage entsteht.
Mittels der Collagen kann Ursula Hirsch an eigene Kindheitserinnerungen anknüpfen. Aber sie möchte nicht nur ihre subjektiven und fragmentarischen Erinnerungseindrücke verdeutlichen, sie möchte auch die geschichtlichen Hintergründe aufdecken.
Wie die Kombination der beiden unterschiedlichen Bildverfahren funktioniert, soll durch eine genauere Untersuchung des 1. Bildes der Serie geklärt werden.
Ein autobiografischer Text führt zunächst in die Serie ein.
Ohne Verklärung beschreibt die Künstlerin die Grausamkeit – ihre eigene und die von ihren Freundinnen – gegenüber jüdischen Altersgenossen. Auf der anderen Seite ist ihr auch nach einem Jahr in der Hitler-Jugend noch der 9. November 1938, die sogenannte Reichspogromnacht, im Gedächtnis geblieben.
Dass erste Bild der Serie:
Ursula Graff-Hirsch, Sich erinnern 1 bis 13 + Textblatt, 1988, Collage, Mischtechnik auf Papier, Blatt 1
Als erstes fallen mir die unterschiedlichen Zeitungsausschnitte der Collage auf. Als Bildträger verwendet die Künstlerin eine eigene konstruktiv-abstrakte Grafik aus den 70ern Jahren, die auf einem hell-grauen Bilduntergrund (mit Bildtitel und Signatur) liegt. Eingerahmt wird die Collage von einem dunkelgrauen Passepartout.
Die oberste Bildebene bildet ein fragmentarischer Zeitungsartikel, leicht erkennbar am Schriftbild und typischem verblichenen Gelb-Braun älterer Zeitungen.
Allerdings wird der Artikel nicht einfach im Sinne eines Belegs oder einer Quelle eingesetzt. Als zu einem Ausschnitt gerissenem Schnipsel haftet ihm etwas Zufälliges, Belangloses an. Andererseits orientiert sich die linke Seite des Artikels genau an der Bildkante. Einzelne Worte des Artikels sind erkennbar: Es wird offensichtlich nach dem Schicksal der Menschen gefragt, die vielleicht noch als Kinder bei der Judenhatz am 9. November mitgemacht, bzw. zuschauend nicht widersprochen haben. Der Artikel hat Bezüge zum Eingangstext, er liefert Stichworte und Motive, die die gesamte Collage durchziehen.
Eine Bildebene tiefer liegt ein weiterer Ausschnitt aus einer alten Zeitung: das Foto einer brennenden Synagoge. Der Blickwinkel des Fotos ist aus der Perspektive eines Zuschauers: genauer eines Voyeurs gemacht – eine Betrachterposition, die typisch für den im Eingangstext angesprochenen Mitläufer ist.
Oberhalb des Fotos befindet sich ein herausgerissener Zettel. Es handelt sich vermutlich um einen Teil einer größeren Skizze. Etwas ist durchgestrichen und darüber – in zartrosa –wurde „9. November“ geschrieben, also das Datum der Reichspogromnacht. Eingerahmt wird die schwarze gestrichelte Verdichtung von zwei sehr zarten Judensternen, wobei der rechte fast die Form eines Sternplätzchens hat. Ist das Foto mit einer weißen Schraffur zum Teil bedeckt und verdeutlicht dadurch die züngelnden Flammen des Brandes, so taucht diese Schraffur in Schwarz auf dem Zettelstück wieder auf. Jetzt provoziert sie in Zusammenhang mit dem Foto die Assoziation von Rauch, der von der brennenden Synagoge aufsteigt. Sind nicht sogar Assoziationen mit dem Rauch aus den Schornsteinen der KZs möglich? Die Schraffur würde dann metaphorisch auf Durchstreichung, Ausschlöschung von Millionen von Juden verweisen.
Die Diagonale des Bildgrundes setzt die Bewegung des Rauches in die rechte obere Bildecke fort. Das schwarze Quadrat wird in diesem Deutungszusammenhang mit Assoziationen an den Tod aufgeladen. Steigt es mit dem Rauch auf? Oder erdrückt das Todesquadrat das jüdische Leben unter sich? Im Zusammenhang mit dem Zeitungsausschnitt, der auch nach dem Schicksal der damaligen Zuschauer fragt, könnte aber auch auf die Verdrängung der mit Schuld verbundenen Vergangenheit angespielt sein. Verdrängte Erinnerungen werden bei dieser Assoziation zu schwarzen Löchern. Lässt man sich auf diesen Deutungsweg ein, dann bekommt das schwarze Quadrat – vor dem Hintergrund der Judenvernichtung – etwas Monströses: Es symbolisiert die kalte Rationalität, mit der die Juden systematisch vernichtet wurden.
Dass Ursula Hirsch ihre Erinnerungen an die Reichspogromnacht nicht abschließend verarbeitet hat, sondern dass diese weiterhin als beunruhigendes Element in ihrem Kopf bleiben werden, verrät die Anordnung des Zeitungsartikels: Dieser fällt aus dem Rahmen.
Das Erlebnis der vernichtenden Kraft des Feuers ist für diese Collage zentral. Deutlich wird dies am unteren Rand des Blattes, an dem Spuren eines Feuers sichtbar sind. Spätestens hier drängen sich mir aktuelle Bezüge zum Krieg in der Ukraine auf: Verbranntes Papier, verbrannte Kultur, Vernichtung von Menschen, traumatisierte Kinder…
Im Kontext der Collage bekommen somit die geometrischen Formen, Linien und das Schwarz nicht nur die Funktion, eine schlüssige Komposition zu ermöglichen, sondern sie werden auch zu Bedeutungsträgern. Zusammen mit dem Zeitungsartikel, dem Foto und der Skizze entsteht ein vielschichtiges Kunstwerk, das an die Täter und die Zuschauer der Gräueltaten vom 9. November erinnert und mit Bezug auf die eigene Erinnerung das damalige Geschehen dem heutigen Besucher verdeutlicht.
2019, im Alter von 90 Jahren, wird Ursula Hirsch mit dem begehrten Ruhrpreis für Kunst und Wissenschaft der Stadt Mülheim an der Ruhr ausgezeichnet.
Nachtrag, 8. Juni 2022
Im KUNSTMUSEUM TEMPORÄR übergibt als Schenkung Helmut Rössner, Großneffe und Nachlassverwalter des Werkes von Hannah Höch, in Anwesenheit von Dr. Carsten Küpper, Vorsitzender des Förderkreises, sowie der Kunsthistorikerin Dr. Karoline Hille die Zeichnung „Abgespillert“ von Hannah Höch aus dem Jahre 1957 der Museumsleiterin Dr. Beate Reese.
Ursula Hirsch lernte 1954 Werner Graeff kennen. Graeff, konstruktivistischer Maler in der De-Stilj-Tradition, unterrichtete Fotografie an der Folkwang-Schule und war mit Hannah Höch befreundet, die einige seiner „entarteten“ Werke während der Nazizeit in ihrem Haus in Heiligensee versteckte und somit rettete. 1964, anlässlich der Hochzeit des Künstlerpaars, schickte Hannah Höch den beiden eine Glückwunschkarte, die heute im Besitz des Museums ist. Mit Hannah Höch verband Ursula Hirsch auch die in der Berliner Dada-Bewegung entwickelte Technik der Collage.
Schon in der 2016 im Mülheimer Kunstmuseum zu sehenden Einzelausstellung „Hannah Höch. Revolutionärin der Kunst“, kuratiert von Karoline Hille, wurde das unbekanntere Werk von Höch nach 1945 vorgestellt.
Das Museum besitzt bereits zwei hervorragende und für die Stilbreite der Künstlerin exemplarische Werke: „Die schönen Reusen“ von 1932 und „Erinnerung an Volterra“ von 1949. Mit der Zeichnung „Abgesplittert“ von 1957 ist Mülheim auf dem Weg ein Zentrum für die Hannah-Höch-Forschung zu werden!