Beyond Emscher

Fotografische Positionen aus der Gegenwart, Mischanlage Zollverein Essen

Klaus-Peter Busse

Fotografien über das Ruhrgebiet haben eine lange Geschichte und eine Tradition. Sie feierten die stetig wachsende Industrielandschaft und die Leistungen der dort lebenden Menschen, andererseits legten sie offen, wie sich der Alltag zwischen Arbeitsplatz und Freizeit gestaltete. In bekannten Fotobüchern wurden Fotografien über das Emscherland zusammengestellt. Wichtige Beispiele sind das Werk „Kohlenpott. Ein Buch von der Ruhr“, das von Georg Schwarz 1931 herausgegeben wurde, „Der Gigant an der Ruhr“, 1928 betreut von Max Paul Block, und der Band „Im Ruhrgebiet“, in dem der Fotograf Chargesheimer und der Schriftsteller Heinrich Böll die Region in der 1950er-Jahren darstellten. Viele Fotografen trugen dazu bei, dass über ihre Bilder der Mythos des grauen unwirtlichen Ruhrgebiets entstand, und bis heute prägen diese Fotografien das „Bild“, das man sich in Filmen (wie den „Tatorten“), in der Presse und in Büchern von dieser einzigarten Landschaft macht. Die Presse spricht sogar von einer »Faszination Früher«. Marc Oliver Hänig bringt es in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom 3.6.2021 auf den Punkt: „Warum bitte treffen uns diese Fotos aus einem vergangenen Jahrtausend immer noch, oder sogar immer mehr, mitten ins Herz? […] Und verliert man nicht vor lauter Rückspiegel den wichtigen Fokus auf Gegenwart und Zukunft, die ihre eigenen Bilder und Geschichten brauchen?“ Der Journalist findet eine Erklärung für diese Begeisterung in dem „verklärten Bild“ dieser vergangenen Epoche vor Beginn des Strukturwandels. Die Geschichte des Ruhrgebiets habe sich tief in dem kulturellen Gedächtnis eingegraben. „Deswegen prägt uns, mit gewissem Abstand, unsere Erinnerung, auf die wir uns hier überproportional fixieren, stärker als im Sauerland oder in Bayern. […] Natürlich haben wir es einer permanenten Verklärung zu tun.“ So äußert sich Theo Grütter, der Direktor des Ruhr Museums in Essen und Hüter des wichtigsten Bildarchivs im Emscherland. Grütter meint mit „Verklärung“ die absichtsvolle Verdrängung der Lebenswirklichkeit im historischen Ruhrgebiet und damit den Inhalt des gängigen Alltagsmythos über die Region.

Ein wichtiges Bildarchiv hat auch die Emschergenossenschaft aufgebaut, in dem Fotografien von dem Fluss, seiner Geschichte und seiner Renaturierung verwahrt und gepflegt werden. Aus der Zusammenarbeit des Museums und der Emschergenossenschaft entstand die aktuelle Ausstellung „Beyond Emscher“. Sie zeigt mehrere zeitgenössische Positionen von Fotograf*innen, die sich in den letzten Jahren mit dem sozialen Leben in der Emscherregion auseinandergesetzt haben. Im September wird eine weitere Ausstellung über die „Emscher-Ansichten. Bildgeschichten eines Flusses“ folgen. Beide Ereignisse gehören sicherlich zu den Höhepunkten von Ausstellungen, die sich mit der Geschichte des Ruhrgebiets beschäftigen, und endlich wird in dieser zweiten Ausstellung die Emschergenossenschaft nach dem vergangenen Projekt über das „Flussarchiv“ Teile seiner Bildersammlung an prominenter Stelle auf Zollverein zeigen können.

Die Themen der lange geplanten und sorgfältig kuratierten fotografischen Positionen in „Beyond Emscher“ sind so vielfältig, wie es die Region selbst ist. Die Bilder zeigen die Veränderungen der Landschaft in den letzten Jahrzehnten.

Herne #1, 2016 und Gelsenkirchen #3, 2016 / Aus der Serie „Ufer“, 2016 von Aymeric Fouquez; © Aymeric Fouquez / Emschergenossenschaft
Gelsenkirchen #3, 2016

Sie zeigen Autobahnen, immer wieder Brücken und Areale, die Menschen nutzbar gemacht haben. Fotografien über den Phoenix-See in Dortmund stehen neben Bildern über die Landwirtschaft im Ruhrgebiet

Haus D / Phoenix See, Dortmund-Hörde 2016/2017 / Aus der gleichnamigen Serie; Martin Rosswog © Martin Rosswog /Emschergenossenschaft; © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Mitarbeiterin am Gemüsefeld, Solidarische Landwirtschaft, Hof Schulte-Tigges, Dortmund 2020 / Aus der Serie „Drei Höfe“, 2021; Paul Kranzler © Paul Kranzler /Emschergenossenschaft

Die Hafenanlagen entlang des Rhein-Herne-Kanals stehen ebenso im Mittelpunkt des fotografischen Interesses wie die Flora entlang abseitiger Orte.

Innenhafen, Duisburg 2021 / Aus der Serie “Chongqing Express”, 2021; Katja Stuke und Oliver Sieber; © Katja Stuke und Oliver Sieber / Emschergenossenschaft
03 Weißdorn (Crataegus sp.), August 2016 / Aus der Serie „Feldforschung—Herbarium“, 2016; Bettina Lockemann © Bettina Lockemann / Emschergenossenschaft; © VG Bild- Kunst, Bonn 202

Die Entwicklung der Verkehrswege war für das Ruhrgebiet von entscheidender Bedeutung. Das gilt für die Straßen, aber vor allem für die Eisenbahn und für den Schiffsverkehr auf dem Rhein-Herne-Kanal, der im letzten Jahrhundert zur Kumpelriviera wurde. Dass es Hafenanlagen gab, ist heute ein Palimpsest in der Erinnerung. Die Fotografin Petra Wittmer dokumentiert in ihrem Projekt „Emscherzone/Emschertal“, wie sich diese Anlagen entwickelt haben und wie sie heute genutzt werden. Ihre Bilder antworten auf das Interesse der im Ruhrgebiet lebenden Menschen an der Geschichte ihres Lebensraums. So öffnen sich immer wieder im Emscherland Orte und Räume, an die man heute nicht mehr denkt oder die man sich nicht vorstellen kann, obwohl es sie gibt.

Hafen Dortmund, 2018/19/ Aus der Serie „Emscherzone / Emschertal. Häfen im nördlichen Ruhrgebiet und ihre Umgebung“, 2018 / 2019; Petra Wittmar © Petra Wittmar /Emschergenossenschaft
Vorarbeiter Rui auf der Baustelle des Klärwerks Emschermündung, Dinslaken, Deutschland, März 2016 / Aus der Serie „Ghostworker. Die Wanderarbeiter am Klärwerk in Dinslaken“, 2016 / 2017; © Giorgio Morra / Emschergenossenschaft

In der zeitgenössischen Fotografie (beispielsweise im Werk von Zielony) ist diese Arbeitsweise der Verständigung zwischen Fotograf und dargestellten Menschen besonders aktuell und ergiebig, weil sie genaue Einblicke in die Lebenssituationen von Menschen ermöglicht.

Viele Fachleute haben immer wieder darüber diskutiert, wie man den Mythos des Ruhrgebietsbildes, seine Verklärungen und die „Faszination früher“ aufbrechen und entblenden kann.

Einen anderen beeindruckenden Blick auf die Region entwirft Giorgio Morra mit seinem Projekt „Ghostworker. Die Wanderarbeiter am Klärwerk Dinslaken“. Der Fotograf beobachtet dort die Arbeitswelt von polnischen Männern, die für eine befristete Zeit in Deutschland arbeiten. Da es dem Fotografen gelingt, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, kann er mit den Wanderarbeitern in ihre polnische Heimat reisen und auf diese Weise die sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen an beiden Orten zwischen Heimat und Fremdheit dokumentieren.

Ziege. Resser Wäldchen, Herne 2019 / Aus der Serie „Zwischen zwei Strömungen“, 2019; Jeffrey Ladd © Jeffrey Ladd / Emschergenossenschaft
Ein technisches Bauwerk als Naherholungsgebiet. Das Hochwasserrückhaltebecken in Ickern und Mengede, 2017 / Aus der Serie „Ein technisches Bauwerk als Naherholungsgebiet. Das Hochwasserrückhaltebecken in Ickern und Mengede“, 2017 Sabine Niggemann © Sabine Niggemann / Emschergenossenschaft

Der Philosoph Wolfram Eilenberger hat während seiner Zeit als Stadtschreiber in Mülheim vorgeführt, wie man dies durch das Abschalten der Wasserpumpen und durch eine Überschwemmung des löchrigen Emscherlands erreichen könnte, denn tatsächlich verhindern wasserwirtschaftliche Maßnahmen überall in der Region ihre Überflutung, denn „das Ruhrgebiet ist geborgtes Land. Fast ein Fünftel liegt durch den Bergbau unter dem Grundwasserspiegel und wird künstlich trocken gehalten,“ schreibt Thomas Wader in der WAZ. Eilenbergers Idee ist eine philosophische Übertreibung und Dystopie, die ihresgleichen sucht. Sucht man hingegen nach wirklichen Entblendungen der Ruhrgebietsmythen, muss man die Ausstellung besuchen, die voller Entdeckungen und Überraschungen ist. Sie zeigt das polyphone Ruhrgebiet abseits von bekannten Wegen als einen ausgesprochen diversen Lebensraum von Menschen, die ihre Umgebung verhandeln und gestalten wollen.

Grüne Mitte Essen, 2021 /Aus der Serie „Insellagen. Vom Emscherdelta in Duisburg bis zur Emscherquelle in Holzwickede“, 2020-2022; Malte Wandel © Malte Wandel / Emschergenossenschaft
„Fördertürme werden zu Leuchttürmen“, sagt Dr. med. Dr. oec. Richard A. nach reiflicher Überlegung. Er kommt ursprünglich aus München und lebt mit seiner Familie und zwei Hunden von Beginn an in der ersten Reihe am Nordhang, 2020 / Aus der Serie „Auf der Asche des Phoenix. Dortmund-Hoerde und der Phoenix-See“, 2020 / 2021;Nikita Teryoshin © Nikita Teryoshin / Emschergenossenschaft

Die gezeigten fotografischen Projekte könnten selbst wieder ein Anlass für neue Mythen über die Region werden, die längst angefangen haben sich auszubreiten: dass es im Emscherland vergessene Räume, belanglose Orte und neue Unwirtlichkeiten gibt. „Beyond Emscher“ verhindert aber diese neuen Verklärungen und Blendungen. Denn sie formuliert innovative Narrative, und sie gelingen durch zwei Schritte, die allen Arbeiten gemeinsam sind. Die Fotoprojekte sind als Serien angelegt. In zusammengestellten Reihenfolgen oder Tableaus erzählen sie in erster Linie über den Verlauf dieser Projekte, die jeweils ein präzises methodisches Konzept aufweisen, sei es die teilnehmende Beobachtung, die Feldforschung, die Dokumentation einer Reise oder ihre Funktion als partizipative Projekte. Als Betrachter*in ist man auf die Kenntnis dieser Konzepte angewiesen, und erst durch sie erreichen die Projekte die volle Kraft ihrer Erzählungen. Nur innerhalb der geplanten und verwirklichten Methoden gelingt es den Fotograf*innen, den Mythos des Ruhrgebietsbildes aufzubrechen und gleichzeitig neue Mythenbildungen zu verhindern. Ohne diese Kontexte erscheinen manche fotografischen Bilder eher belanglos, aber innerhalb ihrer Entstehungskontexte entfalten sich ihre bedeutsamen Aussagen über das Leben in der Region. Weil die Ausstellungskurator*innen dies wissen, bieten sie den Besucher*innen eine Hilfe an: durch Texte, ein Begleitheft und natürlich durch einen Katalog, die man in dieser Ausstellung tatsächlich zur Hand nehmen muss.

Ausstellung “Beyond Emscher” in der Mischanlage, Trichterebene; Christoph Sebastian © Christoph Sebastian / Stiftung Zollverein
Ausstellung “Beyond Emscher” in der Mischanlage, Bunkerebene; Christoph Sebastian © Christoph Sebastian / Stiftung Zollverein

Die neu eingerichtete Mischanlage auf Zollverein bietet einen mehr als angemessenen Rahmen für die Ausstellung der Fotoprojekte. Die Präsentation setzt einen Reigen von Ausstellungen zur Geschichte der Objekte und Bilder des Ruhrgebiets fort, die hier seit vielen Jahren stattfanden, und sie reiht sich vollkommen berechtigt in diesen Reigen ein.

Der Ausstellungskatalog: Beyond Emscher. Fotografische Positionen aus der Gegenwart: Ausstellungskatalog Emschergenossenschaft und Stiftung Zollverein, hg. von Heinrich Theodor Grütter und Uli Paetzel, Mischanlage Zollverein Essen, Köln 2022

Klaus-Peter Busse ist Autor und Mitherausgeber des „Ruhr-Atlas“ als mehrteilige Veröffentlichung über die Bilder und zeitgenössische Kunst im Ruhrgebiet. Der erste Band des „Ruhr-Atlas“ ist im Frühjahr erschienen: Klaus-Peter Busse: Im Ruhrgebiet: Mapping und Raumspiele, Norderstedt 2022 und in allen Buchhandlungen und Onlineshops erhältlich. Nähere Informationen zur Publikationsreihe unter klauspeterbusse.de

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