Martin Assig "Weil ich Mensch bin" in Duisburg / Die Vermessung eines poetischen Gebiets
Klaus-Peter Busse
Wer etwas sehen will, was man noch nie wahrgenommen hat, wer Bilder anschauen möchte, die überraschen, wer sich für Aufregendes in der Kunst interessiert und wer sich in ein unbekanntes Gebiet vom Malerei und Zeichnung begeben will: Die Ausstellung von Martin Assig bietet all das und viel mehr. Sie ist eine Entdeckungsreise in eine poetische Welt, die der Künstler geschaffen hat. Diese Poesien können verzaubern, irritieren und verunsichern. Martin Assig zeigt den Besuchern und Besucherinnen einen Weg in seine Welt der Verarbeitung von persönlichen Erfahrungen und seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit. Die Ausstellung zeigt die Arbeit eines Künstlers, der in sich hinein horcht und das Echo dieses Lauschens zeichnet und malt, „weil ich Mensch bin“, wie Assig selbst sagt und wie er seine Ausstellung nennt. Die Bilder von Martin Assig zu sehen: Als ob man Gedichte mit den Augen abtastet. Viele Bilder will man sogar berühren, weil sie reizvolle Oberflächen haben.
Die Ausstellung zeigt beinahe vierhundert Gemälde und Zeichnungen. Allein dies ist überwältigend. Sie sind vom Künstler in zehn Werkgruppen geordnet, die verfremdende Namen tragen: Auraautoren, Erzählung am Boden, Kleid, Schmerz, Seelen, St. Paul, Tuschen, Übungen zur Verwunderung, Wasser und Vorrat. Welt. Im sehr empfehlenswerten Katalog, der im Verlag von Lothar Schirmer erscheint (dem frühen Sammler von Assigs Werken und Verleger seiner Bücher), sind die Bedeutungen dieser Namen erklärt, und man findet diese Erläuterungen auch an den Ausstellungswänden. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ulrich spricht in seinem Katalogbeitrag von den „Verschleierungen“, die Martin Assig um seine Bilder herum aufbaut, die auf ihre Entkleidung durch die Betrachter und Betrachterinnen warten. Diese Verschleierungen sind verdichtete Zeichen für Gegenstandserfahrungen, Lebenszustände, Schmerzempfindungen und Befreiungen aus Zuständen von Angst und Furcht. Martin Assig spricht offen über seine Krankheit, die ihn bis an den Rand seines Lebens brachte. Das alles ist keine leichte Kost, aber bekleidet in betörend schöne Bilder, als ob die Kunst heilen könnte. Das „Rezeptionsglück“, über das Wolfgang Ulrich schreibt, ist nicht, die Bilder sofort verstehen zu können, sondern der Weg, ihren Spuren zu folgen, sich auf die Suche nach dem zu machen, was in ihnen verborgen ist.
Die Wirkung der Bilder (vor allem der kleinformatigen Werke) wird neben ihren gegenständlichen und abstrakten Motiven durch das Material verstärkt, das Martin Assig benutzt. Gemeinsam mit dem Maler Olav Christopher Jenssen hat er die Technik der Enkaustik weiter entwickelt, bei der Wachs auf das Bild aufgetragen wird. Dadurch erhält das Papier eine geheimnisvolle Oberfläche. Assig hat eine besondere Beziehung zum Papier, was sich auch in den Übermalungen gefundener Buchseiten zeigt. Scherenschnitte und Klebungen sind weitere Verfahrensweisen, die er perfektioniert.
Das Erstaunlichste aber in der gesamten Ausstellung ist die einzigartige Motivvielfalt der gezeigten Bilder. Kein Bild gleicht dem anderen. Vergeblich sucht man nach einem gemeinsamen Anker, wie etwa das Quadrat bei Josef Albers, dessen Bilder gerade in Bottrop gezeigt werden, oder wie das Seerosenmotiv bei Claude Monet. Jedes Bild überrascht mit einer neuen Bildfindung. Manchmal denkt man dabei an die Bilderwelt Paul Klees (der wie Martin Assig die unterstrichenen Bildtitel unter eine Zeichnung schreibt). Assig entwirft in seinen Arbeiten eine Art Lexikon seiner eigenen Bildsprache. Das macht ihn zu einem malenden Poeten, durchaus ähnlich den Lyrikern, die wie Rainer Maria Rilke Im „Buch der Bilder“ durch eine verdichtete Sprache eine Weltsicht entwerfen: „Und wieder rauscht mein tiefes Leben lauter, als ob es jetzt in breitern Ufern ginge. Immer verwandter werden mir die Dinge und alle Bilder immer angeschauter.“ Martin Assig gehört zusammen mit Olav Christopher Jenssen zu den Gegenwartskünstlern, die durch ihre Bilder eine verzauberte Welt schaffen. Es ist, als ob Martin Assig das Werk des amerikanischen Philosophen John Crowe Ransom gelesen hätte: „Das Bild lässt sich eine uranfängliche Frische nicht nehmen, die Ideen niemals für sich beanspruchen können. … Das Bild ist im natürlichen oder wilden Zustande, und dort muss es entdeckt werden.“