Die politische Kunst der Esra Ersen
Lothar Adam
Der „Konrad-von-Soest-Preis“ des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe wurde Esra Ersen verliehen. Anlässlich der Verleihung des mit 35.000 Euro dotierten Preises zeigt das LWL-Museum in Münster einen Überblick über ihr Werk unter dem Titel : A POSSIBLE HISTORY.
Esra Ersen lebt und arbeitet in Berlin. Sie wurde 1970 in Ankara, Türkei, geboren und studierte in Istanbul und Nantes. Ihre Arbeiten wurden international in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt. Ersens Werke, die Medien wie Fotografie, Performance, Video und Installation umfassen, setzen sich kritisch mit gesellschaftspolitischen Themen auseinander. Sie fragt beispielsweise, wie kulturelle oder nationale Identitäten geformt und verändert werden.
Betritt man den Altbau des LWL-Museums, ein Gebäude im Stil der Neorenaissance, stößt man im Lichthof auf eine Installation, die beim ersten Blick an ein Klassenzimmer erinnert. Beim Nähertreten erkennt man auf den Tischen merkwürdige, sich über einem Teller langsam drehende Tonköpfe.
Der Flyer erklärt zu der ursprünglich in einem Kölner Gymnasium aufgebauten und jetzt in der Ausstellung nachgebauten Installation:
Für „Karussell“ baute Esra Ersen in einem Biologie-Hörsaal eines Kölner Gymnasiums eine Art Experiment auf (die Ergebnisse eines Projekts mit Schüler*inner der Schule / LA): Ein an die Wand projiziertes Gemälde von 1814 zeigt die berühmte Wiener Winter-Reitschule. Von den Balkonen schaut ein vornehm gekleidetes Publikum Kavalleristen dabei zu, wie sie mit Lanzen in modellierte Köpfe aus Pappmache stoßen. Das Spiel heißt „Türkenkopfstechen“.
Die Schüler*innen des Gymnasiums wurden von der Künstlerin aufgefordert, das Bild zu beschreiben, das vor ihrem inneren Auge entsteht, wenn sie das Wort „Türke“ hören, und gebeten, dieses in einer Tonbüste zu modellieren.
Gut zu erkennen ist, dass die abgebildete Räumlichkeit des Bildes Bezüge zu dem Ausstellungsraum aufweist!
Die meisten Arbeiten der Schüler*innen reproduzierten, wie zu vermuten war, mit den Schnurrbärten, den großen Nasen und den großen (dunklen) Augen ähnliche Klischee-Köpfe (alles nur Männer!), wie sie schon bei den Zielfiguren für die makabren Reiterspiele genutzt wurden.
Die Aufgabe wurde vor 25 Jahren gestellt. Interessant wären eine Wiederholung des Experiments heute in einer Klasse, in der sicherlich einige Schülerinnen und Schüler einen türkischen Migrationshintergrund haben und Überlegungen über die Frage, wie optischen Klischeebildungen begegnet werden kann.
Zu Recht im Mittelpunkt der Ausstellung stehen die drei Videoinstallationen mit dem Titel „A possible History“. Was hat es mit diesem Titel auf sich?
Grundsätzlich wird jeder Versuch, über die Vergangenheit zu berichten, vor der Schwierigkeit stehen, die Unmenge an möglichen Informationen filtern zu müssen, z.B. durch die Trennung von Privatem von Gesellschaftlichem/Politischem. Entsprechend der Blickrichtung und Publikationsabsicht entstehen dann z.B. Autobiografien oder für den Geschichtsunterricht bzw. das Geschichtsstudium verfasste Lehrwerke.
Werden aber diese beiden Ebenen geschickt miteinander in Beziehungen gesetzt (bei Esra Ersen durch Reisen auf den Spuren von osmanischen Balkanreisenden oder Besuche von Museen und Archiven), entstehen subjektive Geschichten, die das Potential haben, die offiziellen Narrative zu konterkarrieren.
Genau diese Herangehensweise wählt Esra Ersen in ihren Videoinstallationen. Auch in ihrer dritten mit „23/23 Blaupause“ betitelten (Anspielung auf die Reichsgründung 1923), die mit Unterstützung des LWL entstanden ist und in dieser Ausstellung zum ersten Mal gezeigt wird, kombiniert die Künstlerin private Fotos aus Familienalben, Zeichnungen mit historischen Abbildungen aus Büchern und Archivmaterialien. Ihr Erkenntnisinteresse ist darauf ausgerichtet zu verstehen, warum demokratische Entwicklungen in der heutigen Türkei so schwer in Gang zu setzen sind.
Bei dieser Videoinstallation stellt ein kommentierender Text die Bezüge zwischen den auf 160 Karteikarten präsentierten und wie in einem Diavortrag dargebotenen „stehenden“ Bildern her. Und gerade in dieser auf den ersten Blick überholten Darbietungsform zeigt sich der spezifische Blick einer Künstlerin, die über Bilder berichtet, aber auch mit Hilfe der Bilder ihre Geschichten erzählt.
Die weiteren in der Ausstellung dargebotenen Objekte der Künstlerin sind in der Regel die Zeugnisse von Projekten mit Randgruppen der Gesellschaft. Um sie zu verstehen, brauchen die Museumsbesucher*innen Hintergrundinformationen. Die im ausliegenden Flyer und an den Ausstellungswänden auf Deutsch und Englisch gegebenen Informationen reichen leider nicht immer aus, die Brisanz der Arbeiten zu verdeutlichen. Schade! Und höchst befremdlich finde ich es, dass die Informationen nicht auch auf Türkisch angeboten werden, da im Zentrum vieler Arbeiten die Auseinandersetzung mit der türkischen Identität steht.
Um ein Beispiel zu geben: Die in der obersten Etage gezeigten Hochglanzfotografien von kleinen bunten Müllhaufen gewinnen erst eine kritische Funktion, wenn man den Entstehungskontext kennt. Nicht immer wird der Zuschauer ja das Glück des Autors dieses Artikels haben, von der Künstlerin selbst zu erfahren, in welchem Kontext die Objekte entstanden sind.
Esra Esren, die 2019 den Rompreis der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo erhielt, stieß während ihres Aufenthalts in Rom bei ihren täglichen Morgenspaziergängen zum Markt immer wieder auf kleine Müllhaufen im Abstand von 3 Metern. Die Künstlerin fand es merkwürdig, dass das Zusammengekehrte nicht abgeholt wurde. Sie entdeckte einen illegal eingewanderten Afrikaner, der diese Haufen anlegte. In der Nähe stellte er eine Box für Almosen auf. Der Afrikaner zeigte sich aber den ganzen Tag über nicht. In der Nacht beseitigte er die Haufen und schuf am nächsten Morgen wieder neue. Für die Künstlerin spiegeln sich in dieser Aktion nicht nur die bekannten Probleme der Hauptstadt mit den mafiösen Strukturen bei Müllbeseitigung und mit dem diskriminierenden Umgang mit Migranten, sondern sie sieht in der Aktion auch etwas Positives, Widerständiges. Sie nannte die Fotografien „Diario“ (Tagebuch), weil die Müllhaufen das widerspiegeln, was dem Afrikaner täglich begegnet. Ihr Anblick sagt einerseits etwas über unsere Wegwerfgesellschaft aus, andererseits sind sie auch als Spuren lesbar, Spuren eines illegalen Afrikaners, der aktiv die Reste aus der Nacht ausgewählt und zu Haufen gekehrt hat. Er hat nicht nur eine clevere Idee zum Erhalt von Almosen umgesetzt, sondern er hat einen Weg gefunden, die von der italienischen Gesellschaft erwartete Nicht-Sichtbarkeit seiner Existenz geschickt zu unterlaufen und dabei die Opferrolle wenigstens ein Stück weit aufzugeben.
Die Müllberge können somit auch als ein Zeichen für die Selbstbehauptung eines illegalen Einwanderers verstanden werden.
Jeden ersten Samstag im Monat wird um 15 Uhr eine öffentliche Tour und während der Ausstellung drei Führungen mit der Kuratorin angeboten.
Zur Recht hat Esra Ersen einen der wichtigsten Kunstpreise in Deutschland erhalten. Wir gratulieren!