Eva Aeppli und Jean Tinguely - Spiele mit dem Vanitas-Topos

Lothar Adam

Jean Tinguely und Eva Aeppli, Impasse Ronsin, Paris, 18. Sept. 1962, Foto:_hunk-Kender © j. Paul Getty Trust

Es ist möglich, sich über den Tod lustig zu machen, ihm die Stirn zu bieten. Das ist die Botschaft, die von dieser großartigen Ausstellung ausgeht. Ja, es gibt in ihr Anlässe zum Lächeln, vielleicht sogar zu einem befreienden Lachen.

Das zentrale Drama des Lebens, der unausweichliche Tod und die Ängste vor ihm, werden in den Werken von Eva Aeppli (1925-2015) und Jean Tinguely (1925-1991) ins Zentrum ihrer Kunst gehoben, um es dort, z. B. als Marionettenspiel, zu verspotten oder in der immer wiederkehrenden Bewegung einer kinetischen Skulptur der Lächerlichkeit preiszugeben. Und dabei können wir eine Künstlerin kennenlernen, die zwar in einigen nationalen und internationalen Ausstellungen vertreten war, die aber relativ unbekannt geblieben ist. Bis heute. Diese Ausstellung, die anlässlich des 100 Geburtstages von beiden im Lehmbruck-Museum unter der Leitung von Frau Söke Dinkla inszeniert wurde, könnte daran etwas ändern. Über 90 Skulpturen, Installationen und Wandarbeiten nehmen vor allem die Anfänge der beiden in den 50er-Jahren und die gemeinsamen Arbeiten in den 90er-Jahren in den Fokus.

Historisches
Um das Werk von Aeppli und Tinguely zu verstehen, müssen wir m.E. an eine besondere lokale Tradition erinnern. Die Baseler Fasnacht. Beide, 1925 in der Schweiz geboren, wachsen in Basel auf und lernen sich an der dortigen Gewerbeschule kennen. Sie erleben Fasnachtsumzüge, die auf keltische und germanische Ursprünge zurückzuführen sind, auf Ahnenkult, Winteraustreiben und Fruchtbarkeitsrituale. Auf ihnen ist bis heute der Tod allgegenwärtig: So schreibt die Neue Züricher Zeitung am 25.03.2025 über die Fasnacht: „Und es wird keine werden für jene, die sich gerne für einen Moment ausklinken wollen von der Welt und ihrem aktuellen Gang. Die drei schönsten Tage, wie es in Basel heisst, werden eine Konfrontation mit der Realität. Viel Krieg. Viel Tod.“
Noch einen zweiten historischen Zusammenhang müssen wir im Gedächtnis behalten: Als 1925 Geborene erleben bzw. erfahren sie die Schrecken des 2. Weltkrieges.

Biografisches
Eva Aeppli war die erste Frau von Jean Tinguely, der durch seine Schrottmaschinen weltberühmt geworden ist.
Nach einer kurzen Ehe mit dem Basler Architekten Hans Leu zieht Aeppli 1948 mit Tinguely am Basler Stadtrand zusammen. Anfang 1950 kommt ihre gemeinsame Tochter zur Welt. 1952 scheint Evas Elan entscheidend für den gemeinsamen Umzug in in die Nähe von Paris gewesen zu sein, wodurch sie ihrem lebenslangen Freund Daniel Spoerri folgen. 1955 beziehen sie zusammen ein Atelier in der Pariser Künstlerkolonie Impasse Ronsin. Aeppli freundet sich mit Niki de Saint Phalle (1930-2002) – der Schöpferin der Nans – an, die sie ein Jahr später Tinguely vorstellt.
Während Tinguely an seinen mit Motor betriebenen Skulpturen arbeitet, gestaltet Aeppli gruselig-gespenstischee Handpuppen, durch deren Verkauf sie ihren gemeinsamen Lebensunterhalt sichert. 1960 trennen sich Aeppli und Tinguely, pflegen jedoch ihr Leben lang eine enge Freundschaft. 1971 heiratet Tinguely Nike de Saint Phalle.
Interessanterweise nähern sich Aeppli und Tinguely im letzten Lebensjahr von Tinguely künstlerisch wieder an. Es entstehen 1990 dreizehn Gemeinschaftsarbeiten, die m. E. den Höhepunkt der aktuellen Ausstellung bilden.

Künstlerisches
Will man das Werk von Aeppli und Tinguely kunsthistorisch einordnen, so ist daran zu erinnern, dass 1916 das  Cabaret Voltaire im Zürcher Niederdorf zum Geburtsort des Dadaismus wird. In Paris begegnen die beiden dem Surrealismus, während in Italien der Futurismus gefeiert wird. Mit dem Ziel, die Realität selbst zu einem künstlerischen Material werden zu lassen, entsteht in den frühen 1960er Jahren in Frankreich die künstlerische Bewegung des Nouveau Réalisme (Neuer Realismus). Zu dieser losen Künstlergruppe gehörten u.a. Arman, César, Christo, Daniel Spoerri und Yves Klein (der Gründer).

Schon in Aepplis frühen Werken lässt sich erkennen, dass der Tod ein zentrales Thema in ihrem Werk werden wird. Ihre frühesten Zeichnungen sowie (etwas später) ihre Stofffiguren sind dürre Skelette, blasse Gesichter und hinter Gitter gesperrte Gestalten, die aus einem barocken Skulpturentheater stammen könnten.

Eva Aeppli

Eva Aeppli, Le Striptease, 1957, eigenes Foto

Eine ihrer Skulpturen, die „48er-Gruppe“ von 1969-70, besteht aus 48 überlebensgroßen Figuren, dünnen, fast körperlosen Erscheinungen, in schwarze Samtroben gehüllt. Die fein gezeichneten Gesichter haben alle einen zum Schrei geöffneten Mund, der an Munchs berühmtes Bild „Der Schrei“ denken lässt. Die Köpfe sind sorgsam aus Seide genäht und mit Kapok gefüllt. Gut erkennbar bleiben die Nähte, die Schmerz und Verletzung, aber auch Heilung und Zärtlichkeit andeuten. Der Auftritt dieses uniformierten Chors ist rational nicht erklärbar. Angst und Entsetzen mögen ihn motiviert haben. Widerstand und Rebellion verheißt sein Auftritt.

Eva Aeppli, Groupe de 48_48erGruppe, 1969–70, © Susanne Gyger, Luzern, Foto Christoph Reichwein.jpg

Ein weiteres ihrer Hauptwerke ist „Die Tafel“ von 1965-67.

Eva Aeppli, La Table_Die Tafel, 1965–67, © Susanne Gyger, Luzern, Foto Christoph Reichwein.jpg
Leonardo da Vinci, LetzteAbendmahl, 1494–1498, Secco, 422 × 904 cm

Der Bezug zu Leonardo da Vincis Abendmahl in Mailand ist offensichtlich. Statt Jesus sitzt jedoch der Tod in der Mitte des beinahe fünf Meter langen Tisches – mit einer ähnlichen Haltung der Arme wie Jesus. Doch welche Unterschiede! Bei Leonardo hat Jesus gerade gesagt, dass einer der anwesenden Jünger ihn verraten werde. Diese Ankündigung wird in den vier Dreiergruppen mit unterschiedlichen Reaktionen der jungen Männer kommentiert. Andererseits wird mit dem Abendmahl auch ein Sakrament (die „Eucharistie“) installiert, das über den Tod hinausweisende und auf das ewige Leben abzielende Funktionen hat.
Bei dem skurrilen Horrorkabinett, das Aeppli um die lange Tafel versammelt, scheinen die Figuren kurz vor dem Tod zu stehen. Die feinen, farblich wunderschön abgestimmten Kleider stehen im Kontrast zu den skeletthaften Köpfen. Man sieht Hände mit viel zu langen Fingern und ahnt das Fehlen von Körpern unter den Kleidern. Alle Figuren zeigen eine individuelle Reaktion, von tiefem Schrecken über stille Trauer bis zum Gefühl der Erlösung, kommunizieren aber nicht untereinander. V.a. der Tod mit seinen skeletartigen Gesichtszügen und leeren Augenhöhlen hat die Augen auf uns gerichtet und bezieht damit uns – unterstützt von den gönnerhaft ausgebreiteten Armen – in das Geschehen mit ein. Auch ist die Tafel leer, keine Speisen oder Getränke sind aufgetischt worden. Die Atmosphäre eines Wartesaales zum Tod wird evoziert. Auffällig ist die Frau, die ganz rechts vom Tisch etwas abseits sitzt. Sie hat als einzige ein blaues Tuch um den Kopf gebunden und ihre Tränen sind durch schwarze Striche verdeutlicht. In der Kunstgeschichte wird Maria mit einem blauen Tuch häufig bei Kreuzigungsszenen dargestellt. Aber was macht Maria in dieser Runde? Der ein oder andere das Evangelium Studierende hat sich vielleicht schon gefragt, warum Jesus bei seinem Abschied vor seinem Martyrium und Tod nicht auch seine Mutter eingeladen hat – die Anwesenheit von Maria wie auch der anderen weiblichen Personen widersprechen eindeutig der Textvorlage. Die Frage ist warum. In diesem Werk steckt etwas Feministisches, viel Provokantes: Text- und Bildtraditionen werden aufgerufen und gleichzeitig missachtet. Der Schrecken bei der ersten Begegnung mit der Installation verhindert ihr vorschnelles, kopflastiges Einordnen in kunsthistorische Schubladen. Stattdessen werden die Betrachtenden durch all die Bezüge, Widersprüche und Merkwürdigkeiten in ein Gefühlschaos verstrickt, das vielleicht im Lachen, ungläubigem Staunen, Erschauern oder in Beklemmung mündet. Man wird mit dem Tod konfrontiert, zwar abgemildert durch einen poetisch-ironischen Auftritt von Puppen in edlen Kostümen, aber unerbittlich in der absurden Aussage, dass ein Entrinnen nicht möglich und ein Danach nicht erwartbar ist, wodurch der hoffnungsvolle Aspekt in Leonardos Abendmahl negiert wird. So frech ist kaum eine Künstlerin / ein Künstler mit dem Abendmahlmotiv umgesprungen!

Jean Tinguely

Auf das bekanntere Werk von Tinguely, der 1976 den Wilhelm-Lehmbruck-Preis erhalten hat, möchte ich hier nur kurz eingehen. Dass ein zentrales Motiv ab den 1980er-Jahren auch bei ihm der Tod ist, möchte ich aber an der Installation: „Schreckenskarette – Es lebe Ferrari“ von 1985 verdeutlichen.

Sollte eine Adaption des Sandalenfilms „Ben Hur“ für einen dystopischen Science-Fiction-Film geplant werden, Tinguely hätte dafür schon den Streitwagen für die Wagenrennen entworfen. Dabei erinnern das hölzerne Rad und die rotierenden Reste des geplatzten Reifens an die tödlichen Gefahren, die im Autorennsport lauern, aber auch an den Flügelschlag eines Fabelwesens. Tinguely ist vom Rennsport fasziniert, er wollte selbst mal Rennfahrer werden, ist mit Formel-1-Fahrern befreundet und hat im Schlafzimmer seines Ateliers in Neyruz einen elegangen Lotus-Rennwagen stehen. Auf einem Foto in der Ausstellung und in dem ausgezeichneten Katalog, der den Stand der Forschung zu Eva Aeppli festhält, sieht man diesen Rennwagen vor Aepplis Werk „Fünf schwarze Witwen“ von 1969 (auch in der Ausstellung zu sehen) platziert. Das Motiv des sich drehenden Rades kann als Vanitas-Symbol für die Vergänglichkeit, aber auch für technischen Fortschritt, Bewegung und immerwährendes Leben stehen – wie die Kuratorin Anne Groh schreibt. Die Geräusche der Installation wirken mit ihrem metallenen Klang nicht wirklich bedrohlich, sondern haben etwas Spielerisches, das den humorvollen Aspekt der Arbeit betont, andererseits wird mit dem hellen Aufprall zweier Eisenstücke das Ticken einer Uhr evoziert, wodurch auf die Begrenztheit der Lebenszeit angespielt wird.

Eva Aeppli und Jean Tinguely

Wie oben schon angedeutet, beschließen Eva Aeppli und Jean Tinguely 1990, trotz ihrer stilistischen Gegensätze, gemeinsame Werke zu schaffen, in denen Aepplis Figuren mit den mechanischen Konstruktionen von Tinguely verbunden werden. Ein Beispiel: „Hommage an Käthe Kollwitz“.

Da Käthe Kollwitz sich gegen Krieg, Armut und für die Rechte von Frauen einsetzte, deutet der Titel der Installation an, dass Aeppli und Tinguely sich diesem kritischen Engagement verpflichtet fühlen.

Könnte es sein, dass die Installation auf die letzte Grafik des Zyklus „Weberaufstand“ von Käthe Kollwitz Bezug nimmt?

Käthe Kollwitz, Blatt 6 (Ende) aus dem Zyklus »Ein Weberaufstand«, 1893-1897 Strichätzung, Aquatinta, Schmirgel und Polierstahl, 21,6 x 29,5 cm

Zu sehen ist, wie ein weiterer Toter von zwei Männer in eine Webstube gebracht wird, beobachtet von den ins Leere starrenden Augen einer in schwarz gekleideten Frau.
Weder illustriert Käthe Kollwitz das Drama »Die Weber« von Gerhart Hauptmann, dessen Uraufführung sie 1893 gesehen hat, noch die historische Weberrevolte von 1844, sondern sie zeigt einen fiktiven Weberaufstand der Gegenwart, indem sie auf jegliche historische Stilisierung verzichtet und die Weber in Arbeiterkleidung darstellt.
Mechanischer Webstuhl ganz links, schwarze Frau, liegende Tote und nicht zuletzt die Stimmung zwischen Wut und Verzweiflung könnten m. E. Anknüpfungspunkte zwischen dieser Grafik und der Installation sein. Eine schwarz gekleidete Figur (eine aus der „48-Gruppe“) wird immer wieder aus der liegenden in eine stehende Position gehoben, vielleicht auch in den Himmel (der Kunst) geschleudert. Steht diese Puppe für die schwarz gekleidete Frau in der Grafik oder für die 1945 gestorbene Käthe Kollwitz? Oder soll die sich hebende Figur genau in eine andere Richtung gedeutet werden, als ironischer Hinweis auf die Menschen, deren Leiden und Sterben unbeachtet bleibt, aber das hier hervorgehoben wird?

Vielleicht fallen Ihnen ja noch andere Deutungen ein.

Sicher ist nur: Sie werden diese Ausstellung nicht so schnell vergessen, denn diese starke Aktivierung der Gefühle über den Tod gelingt nur ganz wenigen Künstlerinnen und Künstlern mit ihren Werken.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 24.08.2025!

Schreibe einen Kommentar