Stephan Balkenhol zwischen antiker Welt und Tonie-Box
Klaus Peter Busse
Den Besuch im Lehmbruck Museum in Duisburg kann man im zentralen Flügel des Hauses beginnen, wo man beeindruckende Werke des in Duisburg-Meiderich geborenen Künstlers Wilhelm Lehmbruck betrachten kann: Betrachten heißt, die Skulpturen in ihrem Umgebungsraum zu umgehen, den der Sohn des Bildhauers für das Museum geschaffen hat. Überhaupt kann man sich auf der Homepage des Hauses über die Geschichte des Museums informieren: wie sich eine Kunstinstitution im Ruhrgebiet entwickelt und zu einem bedeutenden Museum über die Entwicklung der Skulptur wird. Man sieht in diesem Raum, worum es in der Bildhauerei grundsätzlich geht (und man muss es selbst erfahren): die räumliche Darstellung des Körpers, die Stellung der Skulptur auf einem Sockel, die Erfahrung des Raums um diese Anordnung herum. Dies sind die Voraussetzungen, um zu begreifen, was die Erfassung eines Körpers in einer Skulptur ausmacht, woran sie uns erinnert und womit der zeitgenössische Bildhauer Stephan Balkenhol in seiner Ausstellung spielt. Kinder und Jugendliche deuten solche Körperdarstellungen auf eine unbefangene Weise. In der Ausstellung des Bildhauers Balkenhol geht es um einen doppelten Blick auf seine Werke: Was sieht man mit dem Auge, das kunsthistorisches Wissen ans Licht bringt, und was sieht man, wenn man sich einen anderen Blick zutraut? Nicht umsonst sorgen Stephan Balkenhol, seine Frau und ihre Kinder dafür, dass die Besucher und Besucherinnen zwei Welten des Umgangs mit den Skulpturen kennenlernen: durch einen gebildeten und durch einen unbefangenen Blick.
Der Umgang mit dreidimensionalen Objekten, ja sogar ihre Herstellung gehört zu den selbstverständlichen und gewohnten kulturellen Handlungen in alltäglichen Situationen. Sie werden geleitet von der Lust am Machen und vom Umgang mit einem Material. Es macht Spaß, aus einem Hefeteig eine Figur zu formen oder aus Sand eine Burg zu bauen. Eine Anthropologie des Skulpturalen ist noch nicht geschrieben, aber man weiß, wie wichtig diese Handlungen für die Gestaltung von Kultur sind. Die Gestaltung von dreidimensionalen Objekten gehört zu den Grundmustern unseres kulturellen Verhaltens, und man begegnet ihnen täglich. Man pflegt solche Objekte (wie z. B. Erinnerungsstücke, Vasen oder anderes), man hält sie sauber, und oft will man sie berühren. Das freilich sieht Stephan Balkenhol nicht so gerne. Denn die von ihm geschaffenen Objekte sind Kunstwerke und unterscheiden sich deshalb von den Objekten, die uns im Alltag umgeben. Aber auch diese Objekte rufen die Lust nach Berührung hervor, weil das Material, aus dem diese Dinge gefertigt sind, eine Faszination ausübt. Die an den Skulpturen sichtbaren Bearbeitungsspuren betonen ihr Gemachtsein.
Wie kann es sein, dass man aus einem Holzblock ein Gesicht herausarbeitet? Und vor allem: Wie geht das? Über welche Fähigkeiten muss man verfügen, um solche Dinge herzustellen? Es entsteht beim Gang durch die Ausstellung eine Bewunderung für den Bildhauer, der das auf den Weg bringt und der offensichtlich in der Lage ist, einen Block, einen Stein, Gips oder Ton so zu bearbeiten, dass daraus etwa ein Portrait entsteht. Die Lust am Machen, die Lust der Berührung und die Bewunderung des Gemachten begleiten die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung überall, und die Skulpturen bewegen sich damit mitten in der Geschichte der Skulptur, mit ihrer Theorie, die seit der Antike gewachsen ist, und mit den Merkmalen des bildhauerischen Materials. Das Material von Stephan Balkenhol ist das Holz, und damit steht er in der Tradition einer Bildhauerei seit dem Mittelalter, die aus Holz christliche Figuren schuf und religiöse Funktionen hatte.
Doch Balkenhols Skulpturen, die in ihrer Größe und Bemalung an diese Tradition erinnern, entziehen sich einer solchen Deutung völlig. Sie stellen keine bloßen Alltagsszenen dar. Die Figur einer Frau in einem Kleid heißt auf einmal „Venus“, andere nennt der Bildhauer „Aphrodite“ oder „Perseus“. Einer außergewöhnlichen Arbeit gibt der Bildhauer den Titel „Der Phallusmann“. Und selbst „Laokoon“ tritt in einer Gruppenskulptur auf. Man bewegt sich also in der Ausstellung in einer Welt antiker Anspielungen.
So ist die „Venus“ nicht nur die Darstellung einer Frau, sondern sie erinnert an die vielen Gemälde, die es in der Kunstgeschichte über diese Figur gibt: von Botticellis „Geburt der Venus“ bis hin zu den Bildern in der zeitgenössischen Kunst, etwa im Werk des amerikanischen Malers Eric Fischl. Balkenhols „Venus 2“ liegt nicht auf einer Wiese oder auf einem Sofa, sondern sie wird in dem besonderen Zeitpunkt einer Handlung erfasst, die selbst unklar bleibt, anders als in Botticellis Gemälde, in dem man die Handlung der Figur klar bestimmen kann. Die Skulptur ist auch keine Pose wie die „Venus 1“. Diese stellt einen „Fruchtbaren Moment“ dar: einen Zeitpunkt, der die Vergangenheit und Zukunft der Handlung zusammenfasst. Dass Stephan Balkenhol sich mit dieser bildhauerischen Theorie beschäftigt, zeigt seine Laokoon-Gruppe, deren Vorbild im Vatikan Ausgangspunkt einer kunstkritischen Auseinandersetzung war, wie man Zeit dramaturgisch geschickt in der Skulptur darstellen kann. Es scheint, als ob der Bildhauer Situationen skulptural einfängt, wie der amerikanische Maler Edward Hopper sie malt. Einen Zugang zu diesen Szenen erhält man durch die Suche nach dem Vorher und Nachher der erfassten Handlung. Was ruhig in Balkenhols Skulpturen daherkommt, verbirgt viele aufregende Subtexte, auf die man sich als Besucherin und Besucher einlassen muss, selbst bei dem „Phallusmann“, der an die antiken Bacchanalien oder dionysischen Feste erinnert, in denen eine chaotische und sinnesfreudige Lebensform für eine kurze Zeit das geordnete Leben überstrahlte. Dieses Leben jenseits gesellschaftlicher Regeln und Erwartungen ist immer ein Spielball für die künstlerische Produktion gewesen.
Geht man in Balkenhols Ausstellung, kann man sich an der Kasse eine Tonie-Box ausleihen, die von der Familie des Bildhauers gestaltet wurde.
Als Figurine gibt es eine kleine Version seiner Skulptur des Manns mit schwarzer Hose und weißem Hemd, und die Tonspur der Box öffnet eine andere Welt des Zugangs auf die ausgestellten Werke. Man kann dem Bildhauer unterstellen, dass er diese frische Welt des Zugangs bewusst inszeniert. Denn Kinderaugen erfinden Geschichten über das, was sie sehen. Ihr Blick ist nicht durch Wissen und Erwartungen verstellt und überraschend. Sie sehen in der „Venus“ keine antike Göttin, sondern vielleicht die Mutter, die gerade aus dem Badezimmer kommt. Durch dieses museumspädagogische Hilfsmittel (das wahrscheinlich mehr ist) bekommen die Skulpturen völlig neue Bedeutungsspielräume. Engt Stephan Balkenhol durch seine Titel diese Sinnebenen auf der einen Seite ein, öffnet er sie sofort wieder durch das Spiel mit der Box. Vielleicht sollten sich erwachsene Besucher und Besucherinnen an diesem Spiel zwischen Spielraum und Festlegung von Bedeutungen beteiligen und der Tonie-Box zuhören, statt auf den hervorragenden Katalog zurückzugreifen. Man muss beide Seiten des Zugangs öffnen, um in die poetische Welt des Bildhauers einsteigen zu können.