Lothar Adam und Klaus Peter Busse

Ein verstörendes Bild unserer Lebenswirklichkeit zeigt die Ausstellung von Tobias Zielony: jugendliche Subkulturen, Vorstädte und vergessene Wohnsiedlungen. Wie sich junge Menschen in einem Raum einrichten, den man nicht kennt, den man in der Regel nicht betritt oder für den man sich nicht interessiert: das ist das Thema von Zielonys künstlerischer Arbeit. Aber nicht von einem räumlichen Abseits ist die Rede. Die Fotografien und Videos zeigen eine Welt mittendrin, die aber nicht mitten in den gewohnten Bildern unserer Lebenswelt ist. Tobias Zielony erzählt über diese Welt in ihren Zusammenhängen. Deswegen findet man in der Ausstellung vorwiegend Bildserien, Videos und Bildmontagen, die in der Lage sind, Erzählungen auszubreiten. Beinahe klassisch geschieht dies in der Arbeit „The Citizen“, die der Künstler schon auf der 56. Biennale in Venedig über die Flüchtlingsbewegungen zeigte. Auf großen Aludibond-Platten arrangiert Zielony in Form eines Triptychons Fotografien über die Geschichte von Flüchtlingen. Seine Arbeit ist immer ein Bildspiel. Sie zeigen die Entstehung seiner Werke, die notwendigen Recherchen, seine Gespräche mit den abgebildeten Personen und seine künstlerischen Antworten auf die Fragen, die sich ihm dort stellen, wohin ihn seine Neugierde treibt. Das ist keine Feel-Good-Ausstellung.

Ein Beispiel für solche Bildspiele aus der Serien „The Citizen“ ist diese Fotografie.

Tobias Zielony, 1973 in Wuppertal geboren,  studierte in Wales und Leipzig (bei Timm Rautert). Er lebt und arbeitet in Berlin. Bereits in Newport begann er, die jugendliche Subkultur zu dokumentieren und suchte seine Motive in leeren, nächtlichen Parkhäusern. Er arbeitet mit Einzelbildern und Reihungen sowohl farbiger als schwarz-weißer Dokumentationsfotos. Seine Beobachtungen setzte er in anderen Ländern fort, unter anderem in Frankreich, Kanada, USA und Italien.
Er war im Wintersemester 2009/10 Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Künstlerische Fotografie an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen. 2015 stellte Zielony gemeinsam mit Olaf NicolaiHito Steyerl (s. eigenen Artikel) und Jasmina Metwaly/Philip Rizk im Deutschen Pavillon der Biennale di Venezia aus (Kurator Florian Ebner).

Tobias Zielony The Citizen, 2015 (Detail) Inkjet-Print, 220 x 160 cm Courtesy KOW, Berlin © Tobias Zielony

Sofort erkennbar ist der fotografierte Ort: der Hamburger Hafen. Eine Beschriftung auf der Rückenlehne der Betonbank, die den  Grashügel umschließt, verrät den Ort: Park-Fiction bei Sankt Pauli, also dieser der Stadt von den Bürgern abgetrotzte Kunst-Park, der zu einem beliebten Freizeittreffpunkt der St. Paulianer geworden ist.

Still aus: “Hamburg starts the Weekend at Park Fiction” vom 10.04.2015 https://youtu.be/3yppkuVn1FQ

Vor dem in ein geheimnisvolles Licht eingetauchten Himmel stehen die Kräne in ihrer Anordnung still, bewegungslos. Genau wie der junge Schwarze, der aufrecht stehend mit gerade ausgerichtetem Blick sein Profil zeigt. Nur zwei weitere Parkbesucher sind zu sehen. Die Fußstellung des Schwarzen deutet darauf hin, dass er schon längere Zeit in dieser Position verharrt –  Anstalten zu einem baldigen Weitergehen sind nicht erkennbar. Der Gesichtsausdruck (soweit erkennbar) ist emotionslos, der Blick fixiert ein Ziel in der Ferne.

Man spürt: Der Fotografierte weiß, dass er fotografiert wird. Er möchte so, wie er sich hinstellt/inszeniert hat, wahrgenommen werden: als junger Mann, mit einem sicheren  und relaxten  Auftreten. Die Skurrilität dieses künstlichen Parks vermag ihn nicht zu beunruhigen. Cool wirkt er mit seinen in die Taschen der Kapuzenjacke gesteckten Händen. Überhaupt verraten Hose, Kappe, Rucksack und Schuhe die Beachtung einschlägiger Modevorgaben für coole Jungs.

Und der Fotograf? Er hält Distanz zum Jugendlichen. Nimmt das natürliche Licht, das mit der Dominanz von gedeckten Brauntönen der Szenerie einen warmen Gesamtton verleiht, und  betont das Ausschnitthafte, Dokumentarische. Und doch spürt man bei der Ausschnittwahl, bei der Wahl des Belichtungsmoments hinsichtlch der Farben des Himmels, bei der Beachtung der genauen Profilansicht, die sich nicht mit der Palme überschneidet, und bei der Symmetrie der hinteren Kräne ein geschultes ästhetisches Empfinden. Etwas Geheimnisvolles geht von den kleinen bildinternen Rätseln aus. Wie ist der merkwürdig blaue Bodenbelag zu erklären (es handelt sich um das Ende eines Basketballfeldes)? Wieso liegt eine Person auf dem Grashügel im weißen leichten T-Shirt in einer Position, als ob sie sich gerade sonnt, wobei der zentrale Schwarze mit weißem Strickpullover und Jacke ganz andere Temperaturen andeutet? Die gesamte Szenerie strahlt etwas  extrem Künstliches aus  – v.a. die zweidimensionale Karikatur einer Palme.

Nichts deutet im Foto darauf hin, dass Zielony seit Wochen  das Schicksal dieses über Lampedusa geflüchteten und in Deutschland um Anerkennung kämpfenden Afrikaners begleitet hat. Er will gerade nicht den bekannten Fotos von leidenden und verzweifelten Flüchtigen ein weiteres hinzufügen, sondern er gibt diesem jungen Mann seine Würde, indem er ihm die Möglichkeit gibt, sich so zu inszenieren, wie er sich selber sehen möchte.

Betrachtet man genauer das Umfeld der zentralen Figur, wird erkennbar, dass das in der Fotografie dokumentierte Blickfeld Zielonys voller Zeichen ist: Die künstlichen Palmen verweisen auf einen imaginären Reiseort, das Licht verklärt den Moment und im Hintergrund erkennt man die Kräne, die helfen, Waren aus der ganzen Welt umzuschlagen. Was in den Containern ist, weiß niemand. Sowohl der Hinter- als auch der Vordergrund zeigen eine anonyme Welt, in der ein junger Mann mit seiner persönlichen Biografie der Migration steht, die, wie man weiß, immer mit Träumen, welche natürlich enttäuscht werden können, verbunden ist.. Die Fotografie wirkt wie ein klassisches Historienbild, das ein wichtiges Ereignis in der Geschichte eines Orts verdichtet: Hier ist es das Bild des gelingenden globalen Warenaustauschs und der Vereinsamung von Schicksalen, für die eine Gesellschaft noch keinen Ort gefunden hat. Wohin der Weg des jungen Manns führen wird, weiß niemand. Wohin die Waren in den Containern transportiert werden, wissen die logistischen Computer genau.

Zielonys Bildspiele haben somit mindestens auf zwei Ebenen Kommunikationsangebote an den Betrachter. Die Fotos zeigen häufig ein Umfeld, das anknüpfend an (ein kunsthistorisch geschultes) Bildgedächtnis gesellschaftspolitisch Relevantes anspricht. Im Zentrum seiner Bildes aber stehen Jugendlichen, die trotz aller sie umgebenden Missstände eine Form der Selbstachtung in ihren Inszenierungen ausdrücken. Die Verwebung dieser beiden Ebenen zu einem stimmigen Bild ist die besondere künstlerische Leistung von Zielony.

(Eigenes Vitrinenfoto)

Zielonys Einladung, die Bilder aus Hamburg und Berlin zum Anlass zu nehmen für journalistische Beiträge über Flucht, Aufstand und Fotografie folgten zwölf Tageszeitungen in Uganda, Nigeria, Kamerun, Ghana und dem Sudan, wodurch die normale Richtung von Berichterstattung in umgekehrte Richtung verlief. (In der Ausstellung wird eine Zeitung mit den Berichten der Flüchtlinge verteilt – wie schon zur Dokumenta 2015.)

Erzählt man mit dem Bild Geschichten, bedarf es jeweils einer gut durchdachter Komposition, die die Fotografien zueinander in Beziehung setzt. Tobias Zielony entwickelt hierzu unterschiedliche Verfahren: die geordnete Hängung von Einzelbildern in Rahmen, der Entwurf vorläufiger Ordnungen durch das Heften der Bilder an die Wand, das Stecken von Dias in Register oder die Anordnung von Einzelbildern auf einer Bildfläche, wie man es von den Werken Robert Rauschenbergs kennt. Diese Anordnungen verlangen aber von den Betrachtern, dass sie die so entstandenen Leerräume füllen und die Geschichten rekonstruieren, die dort entstehen. Woher kommen die Personen? Wohin werden sie gehen?

(Eigene Ausstellungsansicht)
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(Eigene Ausstellungsansicht)

Zielony setzt seine Figuren in Beziehungen zu den Orten, an denen sie auftreten, und er versucht diese Orte mit seinen Blickwinkeln und technischen Geräten zu vitalisieren, so dass man meint, dass sie ein eigenes Leben entwickeln. In der Malerei und Literatur des Expressionismus hat man dieses Phänomen Personifizierung der Landschaft und Dingwelt genannt. Diese Methode zeigt, dass der Umgebungsraum nicht eine unschuldige Fassade ist, vor der Menschen leben. Sie entwickelt eine eigene Dynamik und wird in manchen Arbeiten sogar übermächtig.

Besonders gut zeigen dies die Videoarbeiten.
Ihnen ist eine ungewohnte Ästhetik zu eigen. So ist nach den Maßstäben eines gewöhnlichen Filmpublikums der Film „Le vele di Campia“ von 2009 (9:16 Min., ohne Ton) an vielen Stellen „unterbelichtet“ und „ruckelig“, da er mit nur 5 Bilder pro Sekunde (statt normalerweise 24) gedreht wurde, sodass der Film zwischen stehenden und bewegten Bildern schwankt. Drehort ist ein Vorort im Norden von Neapel, der „Le Vele“ genannt wird. Die sieben Gebäude wurden nach Plänen des Architekten Franz Di Salvo zwischen 1962 und 1975 errichtet. Die charakteristische Form der Türme erinnert an Segel (vele), daher der Spitzname des Gebäudes. Noch vor der Fertigstellung beherbergte dieser Ort in den 1980er Jahren Erdbebenopfer. Szenen des Spielfilms „Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra“ und der Fernsehserie „Gomorrha“ (nach dem Roman von Roberto Saviano) wurden vor und in den Gebäuden gedreht.  In der Folgezeit verkamen die Gebäude, das Gelände wurde zum von der Camorra verwalteten Drogenumschlagplatz und verrufenen Problemviertel. 2009, zum Drehzeitpunkt, waren die ersten Gebäude schon wieder abgerissen und nur noch wenige Menschen lebten an diesem Ort.

Hier ein typischer Szenenausschnitt, der zeigt, wie Zielony das Gespenstische der Architektur mit dem alltäglichen Leben der Jugendlichen zusammenbringt.

Die Besucher der Ausstellung können zusammen mit dem Fotografen an viele Orte dieser Welt reisen: in die USA, nach Italien, auf den afrikanischen Kontinent. Tobias Zielony legt seine fotografischen Brennpunkte auf die Wunden dieser Regionen und zeigt die (jungen) Menschen, die um ihre Zukunft ringen. So passt die Präsentation sehr gut in die Zeit und deswegen beunruhigt sie. Man verlässt die Ausstellungsräume und trägt ein Gefühl von Verantwortung mit hinaus. Allein deswegen lohnt sich der Museumsbesuch.

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