Expressionisten am Folkwang / Untersuchungen zu Egon Schieles "Selbstbildnis mit gesenktem Kopf"
Lothar Adam
„Ich glaube immer, daß die größten Maler Figuren malten.“ Schiele 1911
Bereits 1910 erwirbt Karl Heinz Osthaus bei einem Besuch in Wien Werke von Erich Schiele, da ist dieser gerade 20 Jahre alt. 1911 kauft Osthaus für sein 1902 in Hagen gegründetes Folkwang-Museum weitere Aquarelle (14 insgesamt), auch um den in finanziellen Nöten steckenden Schiele zu helfen. 1913 erwarb Osthaus mit „Die kleine Stadt I (Tote Stadt VI)“ auch das erste Gemälde Schieles für ein Museum. Osthaus und Schiele standen bis zum frühen Tod des Künstlers 1918 in regem Austausch.
1912 ist Schiele in einer Ausstellung in Hagen gut vertreten: Sieben Ölgemälde, darunter sein wichtiges großes Gemälde „Die Eremiten“, sind zu sehen. Damit kommt Osthaus das Verdienst zu, die erste Einzelausstellung Schieles in einem Museum organisiert zu haben.
Die aktuelle Ausstellung „Expressionisten am Folkwang“ zeigt leider nicht „Die Eremiten“, aber ein kleineres „Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“, das unmittelbar im Zusammenhang mit den „Eremiten“ entstanden ist.
Schieles Kunst
Elisabeth Leopold, die mit ihrem Mann in Wien eine der wichtigsten Privatsammlungen der österreichischen Klassischen Moderne aufgebaut hat, schreibt über Schieles (1890 – 1918) künstlerische Entwicklung: „Das Jahr 1910 war von entscheidender Bedeutung, er fand in diesem Jahr seinen eigenen Stil, seinen aggressiven Expressionismus. Er zeichnete und malte fast überwiegend schlanke Jünglinge in unüblichen Stellungen und Bewegungen. Die Haltung der Modelle (meist Schiele selbst) sind oft kompositionelle Experimente, aber auch in der Art der Posen, Ausdruck innerer Befindlichkeiten. Die Figuren hatten oft Stellungen der Ausdruckstänzer zum Vorbild, und vor allem fand Schiele auch durch die Schattenspielfiguren von Indonesien, die er liebte, wichtige Anregungen.“
Als er 1910 nach drei Jahren die Kunstakademie vorzeitig verlässt, hat der 20-Jährige seinen eigenen, sich oft aus der Zeichnung ergebenen Stil gefunden, der Bezüge zu den Jünglingsfiguren von George Minne und Ferdinand Hodler sowie zu den linearen Grafiken von Oskar Kokoschka aufweist.
Seine Darstellungen der eigenen Person (insgesamt über 170-mal, dabei ist Schiele nur 28 Jahre alt geworden) neigen mit ihrer berühmten gestenreichen, ekstatischen Figurenkomposition zur inszenierten Übertreibung. Es sind keine Selbstporträts im klassischen Sinn, sondern die Figuren werden ins Allgemeine, Typische gehoben. Nicht auf Ähnlichkeit zielen sie ab, sondern auf die Veränderungsmöglichkeiten.
Wien um die Jahrhundertwende
Das Ich ist keine unveränderbare Konstante mehr. Mit dieser Erkenntnis folgt Schiele den Einsichten von Ernst Mach, Siegmund Freud und Friedrich Nietzsche, die großen Einfluss im Wien des Fin de Siècle haben. Hermann Bahr definiert das „unrettbare Ich“ als „keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit.“ Diese „Auflösungen“ eines stabilen Subjektkerns haben Auswirkungen auf Schieles Kunst: Die stetigen Wandlungen in den Selbstporträts, die Verselbstständigung von Körperteilen (Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ist eine Lieblingslektüre von Schiele), die Doppel- und sogar dreifachen Selbstbildnisse veranschaulichen einerseits die Unbeständigkeit des eigenen Ichs, aber andererseits auch den Versuch, dieses sich auflösende Ich in den Bilder immer wieder neu zu erfinden. Vielleicht kann man sagen, dass Schiele in seinen Bildern dem Schwinden der Möglichkeit zur rationalen Selbstwahrnehmung eine gesteigerte Wahrnehmungs- und Gestaltungskraft gegenübersetzt.
Helene Perena fasst zusammen: „Schieles (Selbst-)Bildnisse sind prägnante Beispiele der Krise der Porträtmalerei im Expressionismus. Sie hinterfragen die Identität als bleibenden Wert und das kontingente Subjekt in steter Veränderung, sodass ein einheitlicher Persönlichkeitsausdruck verborgen bleibt.“
Einigen Porträts wohnt auch etwas mittelalterlich Mystisches inne. Die Figuren zeigen Züge von gotischen Märtyrern und Asketen mit einer abgrundtiefen Melancholie.
Zwei Selbstbildnisse, deren Ähnlichkeit offensichtlich ist.
Das erste Bild ist das Selbstbildnis aus der aktuellen Ausstellung, das zweite ist ein Ausschnitt aus den „Eremiten“, denen ich mich nun zuwenden; denn da die „Eremiten“ in einen größeren erzählerischen Zusammenhang eingebunden sind, ist es reizvoll, zunächst dieses Bild zu untersuchen und zu deuten. Danach, ausgestattet mit biografischen und ikonografischen Hintergrundwissen, wende ich mich dem „Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“ zu.
„Die Eremiten“ von 1912
Bildbeschreibung
Die zwei annähernd lebensgroßen Männer sind durch das dunkle Kolorit der Kutten zu einer einzigen Doppelfigur verschmolzen. Diese sehr dunkle, von Schwarztönen beherrschte, das Gemälde dominierende Zweiergruppe ist vom wesentlich heller gehaltenen, abstrakt in Grau- und Gelbtönen gehaltenem Hintergrund durch ihre klare Konturierung und durch den starken Farbkontrast deutlich abgesetzt. Unten wird das Bild von einem dunklen, ebenfalls klar vom oberen Bildteil abgegrenzten, horizontalen Streifen abgeschlossen. Nur durch einen winzigen, zwei rote Blüten tragenden Rosenstock, der sich aus dem unteren Bildstreifen erhebt, gibt sich diese untere Bildzone als ein Stückchen karge Landschaft zu erkennen. Die gesamte Darstellung wirkt fast zweidimensional. Bei der linken Figur handelt es sich, durch die Physiognomie eindeutig bestimmbar, um Egon Schiele, wohingegen in der zweiten Figur der Freund und Mentor Gustav Klimt – bzw. – nach neueren Lesarten – der Vater des Künstlers erkannt werden kann.
Biographische Bezüge
Die Zuschreibungen der hinteren Person als Vater werden durch viele Berichte über Schieles Erinnerung an ihn gestützt: Schieles Vater ist ein kleinbürgerlicher Bahnhofsvorstand. Er stirbt, als der Sohn 14 Jahre alt ist. Er hat sich mit Syphilis angesteckt und leidet infolge fortschreitender Paralyse zunehmend an geistiger Verwirrtheit. In einem Anfall von Verwirrung verbrennt er den gesamten Aktienbesitz der Familie. Schiele leidet einerseits unter der Krankheit und dem Tod des geliebten Vaters sehr, mit zunehmendem Abstand wird der Vater aber auch immer mehr idealisiert.
Ein zweites Erlebnis hat Schiele ebenfalls stark beeinflusst: zwei kurze Aufenthalte im Gefängnis (von 13. bis 30. April 1912 Untersuchungshaft und vom 1. bis 4. Mai Freiheitsstrafe). Die Hauptbeschuldigung, eine Minderjährige verführt zu haben, erweist sich als haltlos. Weil Kinder aber gelegentlich in Schieles Atelier seine Aktstudien zu Gesicht bekommen, scheint damit dem Gericht der Tatbestand der „Verbreitung unsittlicher Zeichnungen“ gegeben. Auf jeden Fall haben die Gefängnisaufenthalte Schiele tief beeindruckt und zu einer deutlichen Zäsur in seinem Oeuvre (Vermeidung von jugendlichen Aktmotiven) geführt.
Deutungsperspektive für „Die Eremiten“
Einige Interpretationen dieses Bildes beziehen sich auf einen Brief, den Egon Schiele seinem Sammler und Förderer Carl Reininghaus zu Klärung der abgebildeten Figuren schreibt:
„… aber so verblaßt wie die (Figuren; L.A) gemalt habe ist gewollt, sonst würde der poetische Gedanke und die Vision verloren sein, ebenso wie die Unbestimmtheit der Gestalten, die, als in sich zusammengeknickt gedacht sind, Körper von Lebensüberdrüssigen, Selbstmörder, aber Körper von Empfindungsmenschen. (…)
Ich habe das Bild nicht von heute auf morgen malen können, sondern durch meine Erlebnisse einige Jahre, vom Tode meines Vaters an, ich habe mehr eine Vision gemalt als nach Zeichnungen Bilder.“
Diethard Leopold, Sohn des Kunstsammlers Rudolf Leopold, arbeitete als Psychotherapeut (Gestalttherapie) in Wien und ist dort seit 2008 als Kurator am Leopold Museum tätig, sieht in dem Gemälde eine Familienaufstellung: Hinten steht der väterliche Erwachsene, vorne Schiele selbst, dargestellt als zorniger junger Mann. Die zwei erscheinen wie zu einer einzigen Gestalt verschmolzen, einerseits trägt der junge Mann den älteren wie auf der Rücken, andererseits wird der jüngere vom älteren von hinten gestützt. Leopold deutet dieses Bild tiefenpsychologisch im Zusammenhang eines zukünftigen, erhofften Reifungs- bzw. Heilungsprozesses, an dessen Ende die Integration des väterlichen Mannes mit dem Künstlertum des Sohnes stehen könnte.
Diese Integration stehe noch aus, was den im Gesicht ablesbaren Zorn des jungen Mannes erklären könnte.
In einer umfangreichen Untersuchung hat Johann Thomas Ambrózy, Kunsthistoriker und Herausgeber des Egon Schiele Jahrbuches, die ikonografischen Zusammenhänge auch unter Bezugnahme auf den obigen Brief weiter gedeutet. Ich fasse seine Ergebnisse zusammen:
Ambrózy kommt nach einer physiognomischen Untersuchung und der Auswertung des Briefes auch zu dem Ergebnis, dass die rechte Person eindeutig Schieles leiblicher Vater (und nicht sein künstlerischer Förderer Klimt) ist.
Die linke Figur, also Schiele selbst, tritt in der Gestalt von Luther als unerschrockener Erneuerer der Kunst auf. Er schlüpft gleichsam in die Maske des rebellischen Augustiners. Die beiden Hände, die im Bild eine zentrale Rolle spielen, halten zunächst die Mappe, die wohl Entwürfe, Skizzen, Zeichnungen enthält. Die rechte Hand hat aber die Mappe gar nicht recht im Griff. Ihre Hauptfunktion ist das Zeigen der V-Geste mit den gespreizten Fingern.
Sie ist abgeleitet aus der Abbildung von Jesus im Pantokrator-Mosaik im Exonarthex der Chora-Kirche (Kariye Camii) in Instanbul. Die V-Geste der linken Hand verknüpft dort die Bibel, die sie hält, mit einer Zeigefunktion: Der sich aufgetane Spalt zwischen den Fingern zeigt auf die rechte segnende Hand. Also wird bei dem Betrachtendem hierdurch der Schluss nahegelegt: das Befolgen der Lehren der Bibel führt zum Segen, zur Erlösung.
Ambrózy sieht in der Gesamtanlage des Bildes „Die Eremiten“ Beziehungen zur Darstellung der Dreifaltigkeit, wobei die Taube durch den Rosenstock ersetzt wird und damit der ewige Kreislauf des Erdenlebens im Werden und Vergehen angedeutet ist. Die breiten Schultern verweisen auf die Aggressivität eines Samurais, das gebeugte Knie mit dem nackten Fuss auf die Ergebenheit eines Eremiten.
„Insgesamt stellt das Bild eine Allegorie der zwiespältigen, widersprüchlichen Stellung des jungen Künstlers in der Welt dar: einerseits vom Tod des Vaters niedergedrückt, andererseits von der Kraft der Natur (s. Rose, L.A.) aufgerichtet. Einerseits strotzt er vor künstlerischer Begabung und sendet richtungsweisend Kraft aus (s. V-Geste, L.A.), andererseits beugt er demütig das Knie.“
Nach diesem Exkurs zu den „Eremiten“ soll nun Schieles „Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“ aus der Expressionismus-Ausstellung näher untersucht werden.
Deutungsperspektiven zu dem „Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“
Wenden wir uns zunächst den beiden Köpfen zu, die Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede aufweisen.
Beim Ausschnitt fallen die verblühten und vertrockneten Distelblüten, die roten Lippen, der größere Augenabstand und der schwarze Mantel auf. Durch den Vergleich fallen beim Selbstbildnis die folgenden Details auf: Hier die sind Haare noch struppiger und zeigen größere Geheimratsecken, sichtbar sind ein Schnäuzer und ein rotes Ohr, die Hautfarbe weist stärkere Rottöne auf, die Kinn- Halsabgrenzung ist weniger deutlich; auch die Abgrenzung zur Hand ist nur angedeutet, die unbedeckte Stelle im Schulterbereich liegt auf der linken Seite; sichtbar ist die V-Geste mit keilförmig weit voneinander abgespreiztem Zeige- und Mittelfinger der vor die Brust gehaltenen Hand und die weiße Kleidung des jungen Malers.
Durch den etwas stärker gebeugten Kopf, entlang einer Diagonalen von der unteren rechten Ecke in die obere linke, treten die nach oben verdrehten Augen des Künstlers markanter in den Vordergrund und sein dunkleres Antlitz hebt sich stärker vom hellen Hintergrund ab.
Auffällig ist, dass sich das Selbstbildnis dem „Vorbild“ annähert:
Bei beiden Bildern handelt es sich um ein Brustbild mit intensivem Blick und V-Geste sowie einer freien Schulter-Hals-Partie auf der rechten Körperhälfte. Selbst das weiße Gewand des Selbstbildnisses ähnelt der Bekleidung des Pantokrators sowie die neutralen Bildhintergründe.
Zusammenfassende Deutung des „Selbstbildnisses“
Um es auf den Punkt zu bringen: Schieles Selbstbildnis kann als selbstbewusste Siegesgeste über eine veraltete und verachtete Kunstwelt verstanden werden.
Ja, der Hintergrund ist unruhig, er wirkt wie mit kräftigen Pinselstrichen übermalt. Aber er hat seine Macht verloren, die Vergangenheit ist zurückgedrängt. Das Ich versucht nur nach vorne, in die Zukunft zu schauen.
Dieser Blick, der den Betrachtenden zu fixieren scheint, ist voller Sicherheit und Selbstbewusstsein, aber auch Zorn und Ärger spiegeln sich in ihm.
Die vor die Brust gehaltene Hand mit dem langen Zeigefinger verdeutlicht das zentrale „Werkzeug“ seiner Künstlerschaft. Wobei die überlangen, schmalen Finger und Gliedmaßen, der gelängte, leicht geneigte Kopf, der Verzicht auf jegliches weiteres Requisit und auf die Schilderung des Umraums eine Konzentration auf die psychophysische Aussage bewirken.
Dieses Selbstbildnis ist eine Inszenierung, eine Selbstdämonisierung. Ein junger Künstler, ist angetreten, die Kunstwelt zu erneuern, zu revolutionieren. Seine außergewöhnliche Energie zeigt sich nicht nur in seiner außergewöhnlichen Gestik und der eindringlichen Mimik, sondern auch in der Behandlung des mit Rottönen durchsetzten Inkarnats und der Unruhe des Hintergrundes.
Ich finde die Selbstbildnisse von Schiele sehr beeindruckend, weil an ihnen ablesbar ist, mit welcher Radikalität ein junger Mann versucht, sich selbst immer wieder neu zu erfinden. Da den Bildern eine künstlerische Meisterhaftigkeit eigen ist, kann dieser wichtige Impuls zur Überprüfung des eigenen Selbstbildes auch zu einem ästhetischen Genuss werden.
Verwendete Literatur
• Egon Schiele: „Das unrettbare Ich“ Werke aus der Albertina; Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München, Wienand Verlag 2012
• Egon Schiele: Melancholie und Provokation, Leopold Museum Herausgeber: Elisabeth Leopold und Diethard Leopold; Christian Brandstätter Verlag 2011
• EGON SCHIELE JAHRBUCH; Herausgeber / Editor: Johann Thomas Ambrózy, Eva Werth, Carla Carmona Escalera, Band 1, 2011
• Expressionisten am Folkwang / Entdeckt – Verfemt – Gefeiert; Herausgeber / Editor: Museum Folkwang; Edition Folkwang / Seidl, 2022
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