Die künstlerischen Wege des Ernst-Wilhelm Nay
Eine Retrospektive auf den Maler Ernst-Wilhelm Nay in der Duisburger Küppersmühle
Lothar Adam
Mit einer großen Ausstellung, die zuerst im Museum Wiesbaden und dann in der Hamburger Kunsthalle zu sehen war, erinnert die Duisburger Küppersmühle an den Maler Ernst-Wilhelm Nay (1902-1968), der im vergangenen Jahr 120 Jahre alt geworden wäre.
Wie bei vielen Maler*innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, man denke etwa an Wassily Kandinsky, der zu Nays Vorbildern gehört, entwickelt sich seine Malerei vom Expressionismus hin zur Abstraktion – mit Bezügen zur Musik.
Nays Laufbahn beginnt vielversprechend. Schon während seines Studiums bei Karl Hofer wurden einzelne seiner Bilder angekauft. Sein Bild Fischerboote an der Hafenmole von 1930 erwirbt z. B. die Nationalgalerie. Doch 1937 wird dieses Bild zusammen mit neun weiteren Werken im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ aus deutschen Museumssammlungen entfernt. Aber in privaten Kreisen kann Nay noch weiter ausstellen. Offiziell verfemt, unterstützen Nay zahlreiche Kunsthistoriker und Museumsdirektoren (z.B. Ernst Gosebruch, der ehemalige Leiter des Folkwang Museums Essen). Auf Einladung von Edward Munch kann Nay Ende der 1930er Jahre nach Norwegen reisen. Die Lofoten-Bilder entstehen (s. weiter unten). Ab 1940 leistet der Künstler Kriegsdienst in Polen und später als Kartograf in Frankreich; aber selbst in dieser Zeit ist es ihm möglich, weiterhin künstlerisch zu arbeiten. Seiner Überzeugung nach sieht er sich als genialen Erneuerer einer zukünftigen Kunst. Seine Kontakte z. B. zu dem Schriftsteller Ernst Jünger und dem Staatsrechtslehrer Carl Schmitt lassen den Verdacht aufkommen, dass es ideologische Sympathien von Nay mit dem „Dritten Reich“ und dem Soldatentum gibt. Meiner Meinung nach gibt es hier noch erheblichen, möglicherweise brisanten Forschungsbedarf.
Nach dem Krieg, in der sog. Hekate-Periode, verbindet er zunächst seine abstrahierte Malerei (freie Farbformen, Strukturen, Ornamente) mit mythischen Inhalten. Es beginnt Nays Aufstieg zu einem der bedeutendsten Vertreter der deutschen Nachkriegsmoderne; wobei nicht vergessen werden darf, dass in den 1950er Jahren leidenschaftlich, ja aggressiv über die abstrakte Kunst diskutiert wurde. Aufgrund seiner zahlreichen Förderer und seiner umfangreichen Kontakte wird Nay zu einem Star unter den deutschen Künstlern – mit Auftritten auf den Biennalen in Venedig und São Paulo und 1955, 1959 und 1964 auf der Kasseler documenta.
In der Ausstellung kann nur erahnt werden, inwiefern der Künstler Einflüsse z.B. von Kirchner, Nolde, Matisse, Picasso, Klee, Miró verarbeitet, da sie sich ganz auf das Oeuvre von Nay konzentriert.
In den Jahren zwischen 1950 und 1962 werden die Farben von Nay zunehmend als autonome Bildgestalt verstanden, nur noch die Titel seiner sogenannten Scheiben-Bilder verweisen manchmal auf Außerbildliches – Magisches und Symbolisches.
Ähnlich wie Josef Albers untersucht Nay in dieser Schaffensphase die Wirkung von Farben. Er experimentiert v.a. mit den Grundfarben Rot, Blau und Gelb sowie Schwarz und Weiß. Wie Albers variiert er einen Farbton, z.B. von kaltem Blau (mit Grün gemischt) zu warmem Blau (mit Rot gemischt). Bei Nay drängen in den großen Gemälden Farbkreise nach vorne, schweben frei vor und zurück, kalte und warme, schwere und leichte, dunkle und helle Farbklänge ergeben eine kunstvoll differenzierte Chromatik, ähnlich einem vielstimmigen Orchester, das ein raffiniertes kontrapunktisches Stück aufführt. Zunehmend gewinnt die malerische Geste an Bedeutung. Mit breiten Pinselstrichen formt er Farbe zu kompakten Knäueln.
Allerdings habe ich bei meinem Ausstellungsbesuch den Eindruck gewonnen, dass sich dieser Genuss an den geschmackvollen Wiederholungen der Farbscheiben mit der Zeit abnutzt: Die Bilder bekommen etwas Dekoratives, das sie fast für Kalenderbilder anbietet.
Umso mehr haben mich aber die späten Werke, die „elementaren“ Bilder, von Nay überzeugt, die von der Kuratorin Eva Müller-Remmert völlig zu Recht am Anfang der Ausstellung in den ersten großen Räumen gezeigt werden:
Nay vereinfacht in den drei letzten Lebensjahren die Ornamentik und betont die Flächigkeit. Häufig wählt er eine vertikale oder diagonale Ausrichtung mit parallelen Bildstreifen. Die Palette wird auf wenige kräftige – überwiegend kühle – Farben reduziert. Der Farbauftrag ist unvermischt und in dünnen Schichten erfolgt. In dem klar konturierten und ruhigen Bildaufbau greift er seine private Formsprache wieder auf.
Ein Beispiel aus dem Spät-Werk: Gelb – Rosa von 1967.
Um ehrlich zu sein, kamen mir bei der „Rosa“-Formation als erstes pflanzliche Motive in den Sinn, wie sie z. B. auch im Pfadfinder-Logo verwendet werden (Anspielung auf Lilie als Reinheitszeichen, aber auch als Orientierung durch Nordausrichtung), wobei Nays „Pflanze“ über die Grenzen des Bildes hinauszuwachsen scheint.
Auf den zweiten Blick erinnert dieses Werk an kalligrafische (vielleicht) chinesische Schriftzeichen.
Einerseits liegen die Enden der Rosa-Form bis auf eine Ausnahme alle außerhalb des Bildes, wodurch das Bild eine den Rahmen sprengende Dynamik bekommt. Andererseits wirkt die Komposition ausgesprochen harmonisch: Gleich stark um eine Mittelsenkrechte sind die rosafarbenen Formationen auf beide Bildhälften verteilt. Auch die Verteilung zwischen der oberen und unteren Bildhälfte ist ausgeglichen. Der dynamische Gesamteindruck wird durch die leichte Orientierung von zentralen Windungen zu den Diagonalen hin verstärkt. Assoziationen zur Figur einer Tänzerin sind möglich, wobei die Bewegungsrichtungen von Armen und Beinen um eine Mittelsenkrechte hin zu beiden Seiten verlaufen könnten. In der rechten Bildhälfte überwiegen runde Formen, während auf der linken Bildhälfte spitze bzw. Dreiecks-Formen dominieren. Die Farbe Rosa erlaubt Assoziationen an unbekleidete Menschen.
Ein Hinweis, der diese Deutungsrichtung unterstützt, ergibt sich aus einer geschickten Gegenüberstellung im Katalog. Auf der gegenüberliegenden Seite von „Gelb-Rosa“ haben die Katalog-Macher*innen das frühe Bild „Menschen in den Lofoten“ von 1938 abgedruckt.
Die gelblichen Farbfelder, die aufgrund der Überschneidungen eher dem Hintergrund angehören, springen in diesen Bildern nach vorne, während die dunkleren Farbfelder des Vorder- und Mittelgrundes nach hinten streben. Es entsteht ein Flächenrelief, in dem die spätere Tendenz, Farbe rein als autonome Bildgestalt zu nutzten, sich schon andeutet.
Die weiblichen Formen, v. a. die zu spitzen Dreiecken vereinfachten Brüste und die rundlichen Hüftformen, lassen sich in dem rosafarbenen Liniengeflecht von Rosa-Gelb wiederentdecken. In der Ausstellung hängen weitere Lofoten-Bilder, die in ähnlichen Formen und Farben Menschen und Landschaften darstellen.
Auch wenn den gelblichen Farbfeldern in Nays Lofoten-Bildern weder einen Raum noch ein Objekt markieren, ist die Wirkung von Gelb auf jeden Fall positiv. Mit Gelb wird die Sonne, das Licht oder Gold verbunden. Für Asiaten ist Gelb die schönste Farbe.
Auch eine weitere Besonderheit in Nays Konzeption des Bildraums wird in diesen Bildern deutlich. Die weißen Flächen könnten z. B. durch Abschabungen von Farbschichten entstanden sein, wodurch der Bildgrund freigelegt wird, oder als aufliegende Farbfelder gedeutet werden. Die Frage, ob es sich bei den Weiß- bzw. bei den rosafarbenen Flächen um eine Positiv- oder Negativform handelt, wird uns noch weiter unten beschäftigen.
Nay greift somit in seinem „Rosa-Gelb“-Bild eine Form-, Raum- und Farbordnung auf, die er schon in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg in Ansätzen entwickelt hat.
Als vorläufiges Zwischenergebnis meiner bisherigen Deutung halte ich fest: Es ist möglich, mit den vermeintlichen chinesischen Schriftzeichen auch die schwingenden Arme und Beine einer Tänzerin zu assoziieren, wobei das Gelb des Hintergrundes der „Szene“ eine vielleicht warme, aber auf jeden Fall positive Grundstimmung verleiht.
Alle diese Spekulationen gehen davon aus, dass sich die Rosa-Formation vor einem gelben Hintergrund bewegt. Das ist aber überhaupt nicht ausgemacht. Es bedarf nur einer kleinen Wahrnehmungsänderung und vor einem rosa Hintergrund erheben sich die gelben Flächen. Da keine der beiden perspektivischen Einordnungen eindeutig dominiert, scheint Gelbes und Rosafarbiges auf einer Ebene zu liegen, das Bild wird zur zweidimensionalen Bildfläche. Dies würde aber einer Deutung, die eine Definition der rosa Formen vorschlägt, eher widersprechen. Als absolut aperspektivisches Bild entzöge es sich ikonografischer Inanspruchnahme, was ja auch der Titel des Bildes “Gelb – Rosa“ zu empfehlen scheint. Und doch sind meine Deutungsversuche nicht ganz unberechtigt, denn andere Bilder aus der gleichen Schaffensperiode weisen in ihrem Titel ausdrücklich auf ihren zeichenhaften Sinn hin. Hierfür ein Beispiel ist das Bild „Drei Zeichen“. Es entstand wie das Gelb-Rosa – Bild 1967 nach der Rückkehr von einer Reise nach Hongkong.
Es lassen sich weitere Elemente aus dem von Nay über Jahrzehnte hinweg entwickelten Formenrepertoire des menschlichen Körpers im Spätwerk wiederfinden. Augen- und Scheibenformen ziehen sich fast durch sein gesamtes Oeuvre. Auch Schmetterlinge, Bänder und Spindeln tauchen immer wieder auf.
Offensichtlich will der Titel den Betrachtenden dazu auffordern, nach der Bedeutung der drei Zeichen zu suchen. Wieder scheint es mit Blick auf frühe Werke erlaubt, die weißen grafischen Zeichen auf den menschlichen Körper zu beziehen, zumal Nay selbst sein malerisches Hauptanliegen in der „Proportion Mensch zu Raum“ beschreibt, wobei sein künstlerisches Interesse v.a. der Attraktivität des weiblichen Körpers gilt.
Es bleibt somit den Betrachtenden überlassen, ob sie mit Phantasie und durch den Vergleich mit anderen Werken des Künstlers ikonografische Bezüge aufdecken oder ob sie ein Sehen bevorzugen, das sich rein auf die Formen und Farben konzentriert. Vielleicht sind die schönsten Momente des Ausstellungsbesuchs in der Küppersmühle jene, wenn sich die beiden Sehweisen im Spätwerk des Künstlers wechselseitig ergänzen.