Wolf D. Harhammer. Zwei Wirklichkeiten
Lothar Adam
Das Folkwang-Museum in Essen zeigt fotografische Porträts aus der Jahrmarkts- und Zirkuswelt des Stuttgarter Fotografen Wolf D. Harhammer
Für Ernst Bloch, den großen Philosophen des „Prinzip Hoffnung“, sind Jahrmarkt und Zirkus „bessere Luftschlösser“, vergleichbar in ihrem utopischen Gehalt dem Märchen; denn in ihnen steckten Wunschphantasien, z. B. nach einer vergangenen Südsee. Der Zirkus sei „arabische Fantasia in der aufgeheitertsten römischen Arena“.
Verbindet Bloch mit der Jahrmarkt- und Zirkuswelt positiv Utopisches, da sie an Sehnsuchtsorte erinnern, so zielen die Fotos von Wolf D. Harhammer eher in die entgegengesetzte Richtung.
Es werden Menschen gezeigt, die einerseits eine Rolle in dem Amüsierbetrieb spielen, aber jenseits ihres Auftritts eine Befindlichkeit haben, die von ihren Berufsrollen abweicht, ja ihnen widersprechen kann. Diese Fotos beeindrucken, weil sie neben den Hinweisen auf die jeweiligen künstlerischen Rollen auch etwas Privates offenbaren, das durch den harten Alltag des Schaustellers geprägt ist, wobei gerade das Schwarz-Weiß der Fotos das Dokumentarische, Authentische betont.
Wenn ein Weißclown, der häufig die Rolle eines autoritären Chefs innerhalb einer Gruppe von Clowns inne hat, nach seinem Auftritt, etwas scheu, fast verlegen an der Kamera vorbeiblickt, in Alltagsschuhen dasteht und ein geduldiges Lächeln zeigt, dann berührt der Anblick den Betrachtenden. Er sieht hinter der Rolle des Clowns einen Mann, vielleicht einen Vater, in seinem Alltag. Das Seil, das sich auf dem Boden windet, wird zum Symbol für die Mühen des Aufbaus von Zelt und Manege und verweist auf das Provisorische, das zum Wesen des fahrenden Volkes gehört.
Die besondere Qualität dieses Fotos liegt darin, dass es Klischees vermeidet. Der lustige Clown ist nach dem Auftritt eben nicht einsam und traurig. Das Foto strahlt eine Ruhe aus, die sich aus der sicheren Standposition und der Klobigkeit des Mannes ergibt und durch die Bildfunktion des rahmenden und schützenden Zeltvorhangs unterstützt wird.
Ja, es geht eine Heiterkeit von dem Foto aus! Sie hat ihren Ausgangspunkt in dem Mädchen, das sich im Rücken des Clowns an einer Zeltstange festhält, wobei es auf etwas zu sitzen scheint. Vielleicht hat es gerade etwas gesagt, oder dem Mann reicht einfach das Wissen um die Anwesenheit des Kindes, um ihm ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Und in diesem Lächeln, das eine Verbindung zwischen Individuellem und Rolle herstellt, scheint ein persönlicher Glücksmoment vor.
Vielleicht muss ich meine obige Abgrenzung der Fotos von Harhammer zu den Zirkuseindrücken von Bloch relativieren; denn auch diesem Foto von dem Weißclown ist durch seine künstlerische Gestaltung etwas Utopisches zu eigen.
Harhammers Fotografien entstanden in den 1970er Jahren, als der heute 82-Jährige zur Finanzierung seines Studiums an der Stuttgarter Kunstakademie als Luftballonverkäufer, später auch als Zirkusarbeiter unmittelbaren Kontakt zu den Zirkusschaffenden und Schausteller:innen hatte. 1981 veröffentlicht er eine Auswahl seiner Bilder als Fotobuch im Trikont-Verlag unter dem Titel „Zwei Wirklichkeiten“.
Im Rahmen der Ausstellungseröffnung erzählte der sehr sympathische ehemalige Fotograf, dass er sich mit dem Hinweis auf seine eingelagerten Fotografien an das Folkwang-Museum gewandt habe und dass es dessen Sammlungsleiter Thomas Seelig, der zweimal nach Stuttgart zur Sichtung und Auswahl der in Bananenkartons gestapelten Fotografien fuhr, zu verdanken sei, dass diese Ausstellung zustande kam ( ein zweiter Teil folgt im Sommer 2024).
Die von Sonja Palade kuratierte Ausstellung im Untergeschoss des Museums wird durch Fotografien von August Sander, Diana Arbus und anderen kontextualisiert und geht noch bis zum 26. Mai 2024.