Max Ernst "Die ganze Stadt" - eine persönliche Bildrecherche
Lothar Adam
Bei meinem Besuch des Max Ernst Museum Brühl hat mich ein Bild besonders angesprochen: Die „Arizona-Landschaft“ von 1959; nicht zuletzt deswegen, weil es mich an mein erstes Kunst-Plakat – auf Pressspan aufgeklebt – erinnerte, das ich ich als 18-Jähriger zu Beginn meines Studiums für meine Dortmunder Studentenwohnung erworben hatte. Ich wohnte in dem Wohnzimmer der verstorbenen Mutter einer Freundin meiner Mutter. Die Einrichtung bestand im Wesentlichen aus einem schwarzen Klavier, einer schwarzen Anrichte, einem roten Plüschsofa, Clubsesseln aus den 50er Jahren und einem Orientteppich. Die Wohnung lag im Parterre, vor ihren hohen Fenstern erstreckte sich eine vierspurige Hauptstraße mit Straßenbahnschienen in der Mitte. Ich durfte die Einrichtung nicht verändern, allein eine Umgestaltung gestattete ich mir dennoch: Ich ersetzte das nachgedunkelte Landschaftsgemälde über dem Sofa durch „Die ganze Stadt“ von Max Ernst.
Ich fasste nach dem Besuch in Brühl den Entschluss, mich etwas genauer mit dieser merkwürdigen Stadtansicht zu beschäftigen, um herauszufinden, warum ich vor 50 Jahre gerade dieses Bild ausgesucht habe.
Schnell wurde mir klar, dass das Werk von 1935/36 auf zwei vorhergehende Arbeitszyklen vom Max Ernst Bezug nimmt. Und so bietet es sich an, sich über diese zwei Stationen / Werkphasen „Der ganzen Stadt“ zu nähern.
Station 1: Der große Wald von 1927
Zunächst einmal erstaunte mich in diesem surrealistisch anmutenden Landschaftsbild, dass dieser zusammengefallene, versteinerte Bretterzaun, der auf einem Podest vor einem Mond steht, als „Großer Wald“ tituliert wird. Allenfalls an den linken Pfählen oben deutet sich so etwas wie Blattwerk an. Ein dunkler, blaugrauer Himmel umgreift die fast reliefartige Konstruktion. Der „Wald“ selbst besitzt fast keine räumliche Tiefe, ein Eindringen scheint unmöglich.
Dieses Bild ahmt den Grattageeffekt nach, ohne dass Gegenstände unter die Leinwand gelegt worden sind.
Zur Erinnerung: Grattage ist eine Kratztechnik, bei der eine Leinwand auf texturierte Oberflächen (z.B. auf Metallgitter) gelegt und mit mehreren Schichten Farbe bestrichen wird, die mit einem Spachtel stellenweise wieder abgeschabt wird. Im Kontext des Bildes werden die entstandenen Strukturen zu Gegenständen, Tieren usw. umgedeutet. Da der ursprüngliche Entstehungszusammenhang aber erkennbar bzw. erahnbar bleibt, werden die Bildobjekte nicht einfach als Abbildung von Außerbildlichem wahrgenommen, sondern geraten in ein visionäres „Zwischenreich“.
In diesem Bild wurde diese Technik aber – wie gesagt – nur nachgeahmt. Es wurden zunächst rostrote und hellgrüne Farbflecken mit einer dünnen Schicht Dunkelbraun und Schwarz überdeckt, die Ausdehnung des Waldes, Binnenzeichnungen und die Konturen wurden mit einem spitzen Gegenstand herausgeschabt, abschließend Himmel und Gestirn gemalt.
Der auf der rechten Seite erkennbare Vogel (häufig das Alter-Ego von Max Ernst) mit den aufgerissenen Augen vermag sich nicht so recht ins Dreidimensionale vom Untergrund abzuheben. Er scheint aber mit den gespannt Flügeln zur Flucht bereit.
Das Bild ermöglicht Assoziationen an verbrannte Wälder im 1. Weltkrieg. Aber auch weniger konkret kann das Bild als Ausdruck von unbewussten Ängste, Träumen oder Erfahrungen gedeutet werden.
Für mich nimmt dieses Bild Bezug auf romantische Aufladungen des Waldes, z. B. bei Caspar David Friedrich. Bei ihm wird der Wald zu einem Sehnsuchtsort, einen Ort voller Melancholie. In seiner Einsamkeit kann der Mensch mittels Kontemplation transzendentale Erfahrungen machen.
Das Bild von Max Ernst schreit meines Erachtens ein Nein gegen all diese romantischen Aufladungen des Waldes. Der Wald hat bei ihm alle Naturnähe verloren. Auf einer Plinthe ist denkmalartig eine Konstruktion aufgebaut, die einerseits undurchdringlich ist – hier geht keiner rein, um die Einsamkeit zu zelebrieren -, anderseits scheint nicht sicher zu sein, dass sie nicht im nächsten Moment zusammenkracht. Der Mond hat vor einem unheimlichen Himmel sein Innerstes verloren, Vögel sind nur noch als Zeichen vergangener Einritzung vorhanden und zur Flucht bereit – und alles wird entgegen natürlicher Lichtverhältnisse von einer unbekannten künstlichen Lichtquelle von vorne beleuchtet. Schon als die Romantiker den Wald malten, war der unberührte Wald durch die aufkommende Industrialisierung und Verstädterung massiv bedroht, Max Ernst entwirft 1927 ein dystopisches Landschaftsbild, dem sich wiederum hundert Jahre später die Realität immer mehr anzunähern scheint.
Station 2: Der Dschungel von 1936
Die apokalyptischen archaischen Dschungelbilder aus den Jahren 1936 und 1937 werden häufig im Zusammenhang mit Vorahnungen auf die zukünftigen Katastrophen des 2. Weltkrieges gedeutet.
Verglichen mit dem obigen Waldbild geht allerdings beim ersten Hinsehen von diesem Bild etwas Befreiendes, Positives aus. Blauer Himmel, tropische Pflanzen, lustige Tierchen, der Titel „Lebensfreude“: alles scheint eine Naturidylle anzuzeigen. Assoziationen an die Dschungelbilder von Henri Rousseau kommen mir in den Sinn.
Aber schauen wir mal genauer hin:
Im unteren Bildteil paaren sich unter einer wuchernden Vegetation zwei Gottesanbeterinnen, wobei bekanntermaßen das Männchen nach der Begattung verzehrt wird. Beobachtet wird die Szene von einem fledermausartigen Monster. Große Staudenblätter sehen aus wie mutierte Weinblätter. Dionysische (Dionysos ist auch der Gott des Weines) bzw. erotische Anspielungen werden durch geöffnete Hülsenfrüchte, Christrose und Mistel verstärkt.
Die zwei auf einem Felsen verbannten Figuren im Hintergrund (vielleicht eine Frau und ein Mischwesen mit einem großen Schnabel) entziehen sich eindeutigen Zusammenhängen. Motivische Vergleiche mit andern Bildern von Max Ernst erlauben die Spekulation, dass es sich um die Nymphe Echo handelt, die von Pan (eine Identifikationsfigur des Malers?) begehrt wird.
Die Natur wird einerseits in ihrer Vitalität und Wachstumskraft vor einem wunderschönen wolkenlosen Himmel dargestellt. Andererseits geht von den Ungeheuern, dem chaotischen Wachsen der mutierten Riesenpflanzen sowie dem Paarungsverhalten der Gottesanbeterinnen etwas Bedrohliches aus.
Meine positiven ersten Eindrücke haben sich nach genauerer Betrachtung des Bildes verändert. Denn weder gelingt mir eine vernünftige Klärung der Szene auf dem Felsen, noch scheint die Expansion der Pflanzen- und Tierwelt aufhaltbar zu sein, ja, die Pflanzen scheinen den Bildrand zu sprengen und auf mich zuzukommen.
Zusammengefasst: In dem Bild durchdringen sich Lustvolles und Bedrohliches, da Dionysos das Zepter übernommen hat. Max Ernst entwirft mit diesem Bild Visionen, in denen Unbewusstes bildhaften Ausdruck findet.
Station 3: Die ganze Stadt von 1936
Natürlich fallen nach der Betrachtung der obigen Bilder die Übereinstimmungen auf.
mit „Der große Wald“:
• die Rasterstrukturen im Mittelgrund des Bildes
• der tiefe Horizont, der umschließender Himmel mit einem Zentralgestirn.
Und aus der „Lebensfreude“ wird die untere Dschungellandschaft übernommen; auch hier gehen Pflanzenformationen in Tierkörper über.
Neu ist die Burgruine mit großer Eingangsöffnung auf der Höhe der Felsformation. Ihre Größe ist unklar, allerdings deutet sich an ihre rechten Seite eine perspektivische Weite an, die durch die Verkleinerung der Rasterstreifen und den pyramidenförmigen Aufbau vorbereitet wird.
Halten wir auch die Abweichungen fest:
Die Rasterung mit unterschiedlichen Schrägen ist um 90 Grad gedreht. Sie wurde in der Grattagetechnik erstellt: Es wurden Gegenstände, vermutlich Bast- oder Strohmatten – unter die feuchte Leinwand gelegt und mit einem Spachtel die oberen Schichten abgeschabt. Assoziationen an Terrassenstufen, die einen Weg festigen, der in Serpentinen nach oben führt, werden möglich. Aber es geht eine Unnahbarkeit von der Ruine aus – mich hatte vielleicht damals ihre Lage an das Schloss in Kafkas gleichnamigen Roman erinnert, den wir in der Oberstufe behandelt haben.
Schauen wir uns den Dschungelteil noch genauer an:
Einerseits wird der Wildwuchs von der Festung und ihren Mauern dominiert, andrerseits ist der Berg, zumindest von dieser Seite aus, unbetretbar.
Die Technik der Grattage wurde wohl auch bei den dornig gezähnten Blättern und den breiten flachen Halmen angewandt, während die Knospen, Rispen und Blüten sorgfältig gemalt sind.
Wieder sind Übergänge von Pflanzen in Tiere erkennbar: In der Mitte wird aus einem Halmende der Kopf eines Reihers, rechts daneben entsteht aus einem Blatt ein rattenartiges Wesen mit aufgerissenem bezahnten Maul. Die Ausläufer einer Pflanze in der Mitte des Bildes werden zu langen geknickten Fingern einer Hand.
Zentral ein übergroßer gelbgrünlicher Mond (oder eine Sonne?), der Nächtliches assoziieren lässt, während das warme Licht auf den Terrassen und der Ruine eher auf Tageslicht schließen lässt. Aufgrund seiner Größe und seiner Position vermittelt er Ruhe und Stillstand.
Hinter allem: ein pastos gemalter grünlichblauer Himmel, der sich zum Horizont hin aufhellt. Auch er lässt sich weder eindeutig dem Tag noch der Nacht zurechnen.
Sind in dem unteren Bildteil Wachstum, Veränderung, Metamorphosen verbildlicht, haftet dem Mittelteil und dem oberen Bildteil etwas Zeitloses an.
Der Titel „Die ganze Stadt“ lässt sich vor diesem Hintergrund nicht im Sinne eines lokalen größeren Zusammenhangs deuten, sondern als ein zeitlich Umfassendes, in dem Wachstum und Veränderung mit Überdauerndem zusammengedacht werden.
Eine biografische Anekdote: Als Max Ernst nach seiner Übersiedlung in die USA die Gesteinsformationen in Arizona sieht, soll er bezogen auf Bilder in dieser Schaffensphase von einem Déjà-vu gesprochen haben.
Schluss
Kann ich nach Untersuchung „Der ganzen Stadt“ meine frühere Bildwahl besser nachvollziehen? Vielleicht etwas. Einige meiner damaligen Freunde liebten die Bilder von Salvatore Dali. Es lag somit in der surrealistischen Luft, auch Max Ernst zur Kenntnis zu nehmen. Vielleicht suchte ich in meiner damaligen Situation, in der so viel Neues und mir Fremdes auf mich einstürmte, nach einem Ruhepol, vielleicht sehnte ich mich nach etwas Überdauerndem, wie man es im mittleren und oberen Bildteil findet.
Andererseits wollte ich wahrscheinlich der Möblierung, die vergangenen Zeiten entsprang und so gar nicht nach meinem Geschmack war, etwas „Aktuelles“ entgegensetzen. Während der Oberstufenzeit des Gymnasiums, die im Fahrwasser der 68er-Bewegung aufgeschlossener für aktuelle Themen wurde, bildeten sich Freundeskreise, die – Cat Stevens hörend und Tee aus kleinen Ton-Schälchen schlürfend – über Texte von Freud und Marx diskutierten. Das Bild von Max Ernst mit sexuellen Anspielungen im unteren Bildteil und – wenn man so will – gesellschaftskritischen Motiven im mittleren Bildteil passte wohl einfach zu meiner damaligen Weltsicht.
Im Übrigen: Auch für mein weiteres Studium über die Märchen der Brüder Grimm und zu Horkheimer/Adorno „Dialektik der Aufklärung“ war dieses Bild kein schlechter Begleiter.
hi, gute analyse und eine reise auch in meine vergangenheit, den kleinen sechseckigen tisch gibts auch noch. inge