Anna lehrt Maria das Lesen
Lothar Adam
Wer sich mit der Geschichte der Kunst beschäftigt, stößt immer wieder auf religiöse Themen. Ich habe mich vor langer Zeit mit Verkündigungsszenen in der Renaissance beschäftigt, also mit der Situation, in der Maria erklärt wird, dass sie einen Sohn bekomme, der nicht Joseph, ihren Mann, zum Vater habe und der der Sohn Gottes sei. Eine Botschaft und eine Berufung, die Maria nach einigem Zögern und Nachfragen akzeptiert. Häufig liest Maria beim Eintreten des Engels in der Bibel. D.h., sie ist nicht die einfache Ehefrau eines Zimmermanns, sondern sie gehört einer gebildeten Schicht an, in der Frauen lesen können, bzw. sie ist einem klösterlichen Bereich zugeordnet, was in der Regel jeweils durch Marias Umgebung verdeutlicht wird. In vielen Verkündigungsszenen der Renaissance wird Maria weder weihnachtlich verkitscht, noch in unerreichbare Höhe zur Himmelskönigin transzendiert, sondern den Menschen der Renaissance als zeitgenössische, fromme und kluge Frau vor Augen geführt. Doch wie war es möglich, dass Maria diese im 15. und 16. Jahrhundert nur für wenige Frauen mögliche Bildung erfuhr? Was weiß man über ihre Herkunft, die Eltern, ihre Erziehung?
ANNA LEHRT MARIA DAS LESEN –
Zum Annenkult um 1500
Die Unterweisung Mariens aus der Sammlung Peter und Irene Ludwig
In Kooperation mit dem Suermondt-Ludwig-Museum Aachen
vom 10. Februar bis 12. Mai 2019
Link zum Museum
Eine kleine, aber feine Ausstellung in der Ludwiggalerie des Schlosses Oberhausen gibt auf diese Fragen Antworten.
Im Zentrum der Einraumschau steht eine außergewöhnlich kunstvoll gearbeitete französische Skulptur aus der Zeit um 1450. Sie zeigt, wie die thronende Anna der kleinen neben ihr stehenden Maria das Lesen lehrt bzw. sie beim Lesen unterstützt. Um diese Figur werden andere Unterweisungen Mariens gruppiert, das spätere Leben der erwachsenen Maria beleuchtet sowie weitere bedeutende Bildmotive aus der Annenverehrung gezeigt.
Die (gebildeten) Menschen der Renaissance hatten Wissen über die Mutter Marias, das dem heutigen Betrachter im Allgemeinen fehlt. Einiges Wesentliche sei daher kurz erläutert. Anschließend werde ich meine Eindrücke beim Betrachten der zentralen Figur der Ausstellung erläutern.
Die Heilige Anna - theologische Bezüge
Fangen wir mit Adam und Eva an: Aus welchem Grund auch immer, das erste Menschenpaar hat sich bekanntermaßen im Paradies schuldig gemacht und wurde deshalb aus dem Paradies vertrieben (Erbsünde). Durch Leben, Tod und Auferstehung von Jesus ist die Erlösung der Menschen (von der Erbsünde) möglich geworden. Da die Erbsünde im Kontext des AT mit Zeugung und Sexualität zusammenhängt, musste Maria, als Mutter von Jesus, eine Jungfrauengeburt gelingen. Doch was zeichnete Maria aus? Warum wurde gerade sie zur Mutter von Jesus? Wer waren ihre Eltern? Die Evangelien selbst sagen darüber nur wenig aus. Aber das „Protoevangelium Jacobi“ (Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden) und andere apokryphe Schriften erzählen über die Zeugung, Geburt und Erziehung von Maria. Um die besondere Stellung als Mutter von Jesus zu beglaubigen, sollte Maria entweder von der Zeugung an ohne Erbsünde sein (so das Dogma von der „Unbefleckten Empfängnis“, 1854 durch Papst Pius IX erlassen) oder durch ihr ehrbares Leben – vor und nach der Geburt von Jesus(!) – von dieser gereinigt werden (so die v.a. von den Dominikanern gegen die Franziskaner vertretene Meinung bis ins 19. Jhdt.). Und an dieser Stelle kommen Joachim und Anna, die Eltern von Maria, ins Spiel. Sie sind – und das ist unbestritten – die leiblichen Eltern von Maria. Leider bekommen diese – so die Legende – lange Zeit keine Kinder. Da hinter der Kinderlosigkeit eine Schuld vermutet wird, darf Joachim nicht mehr den Tempel in Jerusalem betreten. Er zieht sich betroffen zu seinen Hirten zurück. Als ein Engel ihm verkündet, dass er und seine Frau trotz ihres hohen Alters noch ein Kind bekommen werden, eben Maria, eilt er freudig zurück zu seiner Frau Anna, die auch mittels eines Engels über ihre späte Mutterschaft informiert worden ist. Sie treffen sich vor der Goldenen Pforte (Osttor des Tempels). Großartig wird die Geschichte von Joachim und Anna in der Arena-Kapelle in Padua von Giotto dargestellt. Ist es bei ihm der Kuss, der zu Annas unbefleckter Empfängnis von Maria führt, so hat diese Funktion bei Dürer (in dem in der Ausstellung zu sehenden Holzschnitt) die sich auf den Bauch legende Hand.
Zur begrifflichen Klärung: bei der unbefleckten Empfängnis gibt es einen Vater (z. B. Joachim), aber keinen klassischen Zeugungsakt (Spermien). Bei dem Zeugungsakt der Jungfrauengeburt spielt der Ehemann (z. B. Josef bei Marie) keine Rolle. In beiden Fällen können die gebärdenden Mütter als „jungfräulich“ gelten.
Erzählt wird in der verbreiteten Legendensammlung des Jacobus de Voragine (entstanden um 1270) noch davon, dass die Eltern die dreijährige Maria bis an die Stufen des Tempels bringen, in dem sie dann täglich ihren Dienst verrichtet. Nach der Verlobung mit Joseph kehrt Maria bis zur Verkündung durch den Engel in das Elternhaus zurück. In der Erzähllogik der Legenden kann somit die Unterweisung von Maria durch Anna bis zur Heirat von Maria und Joseph erfolgen.
Auch noch in einem zweiten theologischen Zusammenhang hat die Heilige Anna eine Bedeutung: Laut Matthäus (13,55) und anderen Quellen hat Jesus mehrere Brüder, was nicht recht zur lebenslänglichen Jungfrauenschaft von Maria passen will. Aber mithilfe der drei Hochzeiten von Anna lässt sich dieses Problem lösen. Denn Anna heiratet der Legende nach, nachdem Joachim gestorben ist, noch zweimal (das „Trinubium“). Aus diesen Ehen gehen zwei Kinder hervor, die beide auch Maria heißen. Diese Marien bekommen wiederum Kinder, diese Cousins können als „Halbbrüder“ von Jesus gelten. Anna wird zur Stammmutter einer ganzen Sippe von Heiligen, Evangelisten und Jüngern.
Im Mittelalter ist die Bedeutung der Heiligen Anna umstritten. Erst im 15. Jahrhundert wird Anna zu einer Art Modeheiligen mit zahllosen Legenden. Papst Sixtus IV, der vor seiner Wahl General des Franziskanerordens war und damit, wie wir ja schon wissen, entgegen den Auffassungen der Dominikaner die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis Mariens vertrat, sorgte 1481 dafür, dass ein Anna-Gedenktag in den römischen Kalender eingetragen wird. Er publizierte am 4. September 1483 die päpstliche Bulle Grave nimis. Die Bulle erklärt die Freiheit Mariens von der Erbsünde im Augenblick ihrer Empfängnis. Es bilden sich vielerorts Annenbruderschaften und sie wird zur Patronin einer Vielzahl von Ständen und Zünften. Kirchen und Kapellen werden ihr geweiht. Man verehrt sie v.a. als Beschützerin der Schwangeren, Kleinkinder und Bräute und bittet sie um einen reichen Kindersegen. Auch ihre Rolle als Stammmutter einer größeren Sippe macht sie in jener Zeit attraktiv, in der v.a. Adelige ihre Abstammung zur Legitimation ihrer Stellung heranziehen und Anna als Stammmutter einer Sippe Vorbildfunktion hat.
In der bildenden Kunst ist das Motiv der Maria im Lesen unterweisenden Anna nicht sehr häufig anzutreffen; eher stoßen wir auf das sogenannte „Anna selbdritt“: Anna wird als sitzende Großmutter mit Tochter Maria und Enkel Jesus dargestellt. Eine berühmte Darstellung dieses Motives ist Leonardos Gemälde „Anna selbdritt“, bekannt ist ist auch dessen Deutung durch Freud.
In dem sehr schön gestalteten und informativen Katalog zur Ausstellung untersucht Dagmar Preising genau die Entstehung und Entwicklung des Motivs der Unterweisung von Maria durch Anna. Über England und Frankreich hat sich dieses Motiv v.a. als (zweidimensionaler) Bildtyp mit der zunehmenden Annenverehrung (im 14. und 15. Jahrhundert) verbreitet. Deutsche Beispiele sind nicht sehr zahlreich. Die Funktion dieses Bildtyps kann zusammenfassend als Anreiz zur Nachahmung beschrieben werden: Maria wird mittels eines Buches (Bibel, Psalter, Stunden-, Gebetbuch) in den christlichen Tugenden unterrichtet. Wie bei vielen Verkündigungsszenen, in denen Maria beim Lesen der Bibel vom Engel angetroffen wird, verweist das Buch im Zusammenhang mit Anna einerseits auf prophetische Schriften des Alten Testaments. Andererseits diente in Früh- und Hochmittelalter eine lesekundige und gebildete Maria als Vorbild nicht nur der adeligen, frommen Frauen, sondern auch der Mönchsbrüder in den Klöstern.
Zwei Varianten des Bildtyps werden unterschieden: Entweder sitzt bzw. thront Anna oder sie ist in einer stehenden Position neben Maria dargestellt, immer aber als Matrone, die in ein über den Kopf gezogenes Tuch (als Symbol der verheirateten Frau) gehüllt ist.
Die Botschaften der Skulptur
Sofort erkennbar ist eine Mutter-Tochter-Szene. Die sitzende bzw. thronende Anna präsentiert ihrer Tochter ein Buch, das diese offensichtlich mit Hilfe eines Zeigers konzentriert zu lesen versucht. Sofort fallen die Falten des weiten, höfisch-antiken Manteltuches, in das Anna gehüllt ist, auf. Der Künstler hat also versucht, einen hohen Realitätsbezug zu erreichen. Er will Mutter und Tochter einen zeitgenössischen höfisch-antiken Rahmen geben. Doch wird diese Konzeption einer rein abbildenden Funktion der Skulptur nicht in allen Details durchgehalten.
Wie ist die Krone des Kindes zu verstehen? Da die Haarlocken von Maria sehr realistisch dargestellt sind, bekommt auch die Krone eine scheinbare hohe visuelle Glaubwürdigkeit. Doch welches Kind läuft mit einer hohen Blattkrone, die mit einem Edelsteine imitierenden Steinschnittkranz verziert ist, herum? Offensichtlich kann dieses Detail nur als Symbol für die künftige Mutter Gottes und Himmelskönigin verstanden werden. Noch eine andere Deutung kommt mir in den Sinn: Vielleicht sieht nur Anna die Krone. Sie weiß aufgrund der Lektüre der Heiligen Schrift um die Zukunft ihrer Tochter. Dem Betrachter werden somit vielleicht die Gedanken von Anna veranschaulicht. Und dazu passt es, dass die Blattformationen der Kronen auch ein Kreuz andeuten könnten; das zukünftige Schicksal ihres Enkels.
Welches Verhältnis hat Anna zu ihrer Tochter? Betrachtet man die Skulptur von vorne, so scheint die Körpersprache von Anna eher auf ein distanziertes Verhältnis hinzudeuten. Der Oberkörper bildet auf der rechten Seite fast eine Senkrechte, wobei der Kopf leicht nach vorne zur Tochter geneigt ist. Doch geht man auf Anna zu, auf die rechte Seite der Skulptur, lernt man sie sozusagen näher kennen, so sieht man, dass auch ihr Oberkörper der Tochter zugewandt ist.
Übrigens kann man von den Seiten auch gut erkennen, dass die Skulptur ursprünglich nicht frei im Raum, sondern vor einer Wand stand: ihre Rückseite ist abgeflacht.
Von der linken Seite aus betrachtet wird dieses Vorbeugen, diese das Kind umrahmende Funktion von Oberkörper und rechtem Arm noch deutlicher. Bei aller Strenge der Tochter gegenüber verbindet die beiden doch eine große Liebe. Anna, ihre Kopfbedeckung weist sie als verheiratete Frau aus, schaut gedankenvoll auf ihre Tochter. Sie besteht darauf, dass diese in den Schriften liest, um sie entweder auf ihr Schicksal vorzubereiten oder allgemein in den christlichen Tugenden zu unterweisen. Anna verhält sich im christlichen, aber auch im humanitären Sinn vorbildhaft: sie lehrt dem Kind nicht das Lesen im Sinne einer Alphabetisierung, sondern sie hilft ihm beim Verstehen der Botschaft. Anna kann Maria auch noch in einer anderen Weise als Vorbild dienen. Der hohe Gürtel von Anna lässt sich auch als ein Hinweis auf die jungfräuliche Geburt von Maria deuten. Mutter und Tochter haben in dieser Hinsicht das gleiche Schicksal, wodurch diese Skulptur auch Stellung zugunsten Annas unbefleckter Empfängnis von Maria in dem oben angedeuteten theologischen Streit nimmt.
In einer Ausstellung des Köllner Wallraf-Richartz-Museums werden 90 Darstellungen über die biblische Erzählung von „Susanna im Bade“ gezeigt.
Danke für die Information über die das Lesen lernende Maria bei und von ihrer Mutter Anna.Heute im TV Gottesdienst wurde vermeldet, dass Maria weder lesen noch schreiben konnte. Das ist jetzt geklärt!